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Denkmoden - Zed - 03.01.2021

Obwohl fast jeder mit der Idee vertraut sein dürfte, nur ein sogenanntes “Kind seiner Zeit” zu sein, so hinterfragt kaum jemand die Konsequenzen dieses Ausspruchs, der ja eigentlich eine Einsicht sein sollte. Also offenbar gibt es zu jeder Zeit sowas wie Denkmoden und offenbar fügen sich viele unserer Gedanken und Einstellungen in die Denkmoden unserer Zeit. Und nun?

Was heißt das für unsere Mündigkeit? Heißt es nicht, dass wir vielleicht gar nicht so mündig sind, wie wir uns gerne sehen? Sind unsere Gedanken und Einstellungen nicht viel eher ein Produkt unserer Zeit als unserer Selbst, des heilig geschätzten Individuums? Gehen wir ferner vielleicht insgeheim davon aus, dass unser Denken sich stets nur verbessert, indem es die Moden der Zeit durchschreitet? Blicken wir darum mit einem Lächeln auf das Sinnen unserer Vorväter und verwerfen blindlings ihre Überlegungen, sofern sie nicht vereinbar sind mit unserem Zeitgeist? Haben wir die Phrase “Früher dachten wir, … heute wissen wir …” so sehr internalisiert, dass sie selbst zum Paradigma unserer Zeit geworden sind? Und liegt darin nicht eine große Anmaßung?

Paul Graham schreibt gerne Essays, die ich gerne lese. Auch zu diesem Thema hat er geschrieben, paulgraham/What You Can’t Say. Diesen Artikel kann ich sehr empfehlen, hier geht es implizit um unsere moralischen Vorstellungen und explizit über Denkverbote.

Kleine Anmerkung. Galileo ist nicht dafür in Schwierigkeiten geraten (zumindest nicht in die großen), dass er behauptet hat, die Erde drehe sich um die Sonne (oder gar die Erde rotiere) – Papst Urban VIII. war sogar an diesen Ideen sehr interessiert und hat sie sich mit Wohlwollen von Galileo persönlich erläutern lassen. Galileo ist dafür in Schwierigkeiten gekommen, dass er seinen Dialogo hat drucken lassen, in dem er die päpstlichen Ideen in den Mund eines Simplicio genannten Widersacher Galileos gelegt hat, was man durchaus als Kränkung und Angriff auf den Papst selbst deuten kann (selbst wenn es nicht als solches gemeint ist), siehe wiki/Galileo Affair#Dialogue. Sogar bei so faktuellen Sachen scheitern wir schon in unserem Geschichtsbild …

Vernachlässigt wird in unserer Rezeption von vergangenen Zeiten, so scheint es mir, wie sehr sich unsere Sprache wandelt. Die großen Denker unserer Vorzeit werden selten im Original gelesen, sondern meist nur in Übersetzung. Eigentlich ist allen bekannt, dass man ihnen so nicht gerecht wird. Und vielleicht ist es bei vielen sogar unmöglich, ihnen gerecht zu werden, etwa weil wir sie nur in einem Latein lesen können, das wir heute nicht mehr wirklich verstehen können.

Mein Vater selbst ist Philologe. Er beschäftigt sich mit Schriften, die mehrere Jahrtausende alt sind, und erzählt mir von seiner Arbeit. In seiner Jugend hat er ein Jahr lang von früh bis spät tagein, tagaus nichts anderes gemacht, als eine Jahrtausende alte Sprache zu studieren, bis er sie verstanden hat, also ihre Texte wahrhaft lesen konnte – nicht bloß übersetzen. Das ist Lesen in der Sprache, in der diese Texte auch geschrieben sind. So wie wir auch Texte auf Englisch lesen oder Filme auf Englisch schauen können: Denn wir verstehen die Sprache. Erst dann erleben wir, dass wir einen Satz in einer Fremdsprache zwar verstehen können, aber nicht übersetzen. Auf diesem Niveau verstehen die allerwenigsten heutzutage Latein – die Sprache, welche sogar bis ins 19. Jahrhundert hinein noch die Wissenschaftssprache Europas gewesen ist.

All unser Wissen über die Geschichte erfahren wir Normalsterblichen rezipiert durch andere, und dann oft auch noch ein weiteres Mal rezipiert durch wieder andere – sozusagen als stille Post. Wir selbst sind eben nicht im Gespräch mit den Urhebern unserer eigenen Geistesgeschichte, an deren Ende wir uns wiederfinden. Wir sind abgeschnitten.

Wir sind wie der Kamm einer ewig brechenden Welle oder wie die Krone eines ewig wachsenden Baumes. Und wir glauben, unsere Geschichte von unserem Standpunkt aus erschließen und in unser Selbstverständnis integrieren zu können, aber verpassen dabei, uns als bloße Generation für die nächste zu begreifen, um zu verstehen, wie die Welt vor uns wirklich aussah. Vor uns war keine Welle ohne Kamm, kein Baum ohne Krone. Vor uns war eine eigene Welle, ein eigener Baum. Und wir verstehen diese Welle, diesen Baum nicht, solange wir versuchen wollen, sie, ihn als Teil unserer selbst zu verstehen.

Das Verständnis unserer Geschichte verlangt ein Bruch mit unseren Denkmoden genauso wie ein Bruch mit unseren Denkmoden ein Verständnis unserer Geschichte verlangt. Der Schlüssel zu beidem liegt genau darin, unsere Vorfahren ernst zu nehmen. Und wer tut dies schon?