Darf das eigentlich sein, dass man durch profane, invasive Stromimpulse ins Gehirn das Bewusstsein verändern kann? Bewusstsein sollte doch etwas eigenständiges sein, das weder von außen beeinflussbar ist, noch davon beeinflusst werden will. Bewusstsein ist etwas, worauf man stolz sein möchte. Wie stolz kann man auf einen Stromstoß von außen sein? Wie sehr kann man das Bewusstsein, das dann erzeugt wird, als sein eigen bezeichnen? Außerdem: wenn wir alle so hart am Klarträumen arbeiten, wie fair ist das denn, dass andere das auf Knopfdruck haben können dürfen? Alle die Jahre Training und dann sowas.
Aber andererseits: wollen wir es nicht gerade zukünftigen Generationen leichter machen? Ist das nicht die Idee von Fortschritt, von einer Verbesserung der Welt? Oder sollen wir zu den Klartraum-Opas gehören, die den neuen Generationen mürrisch erklären, dass sie damals noch Kilometerweit im Schnee der Trübheit gestapft sind, jeden Tag! Zweimal! Und ihr habt es alle viel zu einfach heute... Nichts wertschätzt diese Generation. Und Raipat sagte einmal: Von nichts kommt nichts. Wir sind doch die Klartraumaristokraten! Der elitäre Bewusstseinsadel!
Und doch ist es nicht viel anders als Technologien, die wir schon vorher kannten. Substanzen, die das Bewusstsein beeinflussen, ja sogar mentale Techniken, die das Unterbewusste "austricksen". Ankonditionierte Reality Checks sind dafür ein gutes Beispiel. Und ich habe in solchen Fällen das Problem: habe ich mein Unterbewusstsein jetzt nicht übergangen? Sollte nicht es entscheiden, ob es bereit ist, die Realität zu hinterfragen? Sollte es nicht selbst am Hebel bleiben? Und was passiert mit dem Traum, wenn ich es übergehe? Wie wird es reagieren? Oder wird es damit selbst auch verändert?
Wenn es Mittel und Ströme gibt, die sogar Depressionen heilen sollen, dann könnte man davon ausgehen: das Unbewusste selbst wird verändert. Ich dachte mir, wenn man Klarträumen will, muss man selbst das Bewusstsein erlangen. Das geht nicht durch äußere Einwirkung, man muss reflektieren. Aber was ist, wenn es äußere Anreize gibt, die das Reflektieren erleichtern, ja sogar triggern können? Dann ist der mentale Prozess, der mir so wichtig ist, ja eben nicht ausgespart worden. Das Gehirn wird ja auch gerne als Wet-Ware bezeichnet: Weder Hard- noch Software, irgendwie so eine nass-feuchte Mischung. Der Geist beeinflusst das Gehirn und das Gehirn beeinflusst den Geist, anscheinend wechselseitig. Es ist ja auch evident, dass eine schöne Umgebung im Wald inspirierend wirken kann, oder empathischer Sex etwas im Selbstbewusstsein verändern kann. Dass das alles nachhaltige Wirkung haben kann.
Es gibt also eigentlich nur ein Problem, das ich hier habe: die Menschen gehen nie weiter. Aber das war schon immer so: gibt es eine Methode, um eine Krankheit zu heilen, gibt es eine Technik, die schöne Erlebnisse beschert, dann nimmt man es dankend an, und bleibt dabei stehen. Wenn man Glück hat, ist es etwas, das nachhaltig wirkt. Dann hat man nachhaltig wieder mehr Selbstvertrauen oder nachhaltig eben mehr Reflexionsgrad im Traum. Wenn man Pech hat, ist es nicht nachhaltig und man ist auf die Technologie angewiesen. Aber so sind wir Menschen ja seit Anbeginn der Zivilisation: wir sind immer mehr auf Technologie angewiesen. Und die Alten haben davor immer mehr Angst als die Jungen.
Aber wer geht weiter? Was bedeutet weiter gehen? Es gibt ja Gründe und Ursachen dafür, dass man z.B. depressiv ist oder keine Klarträume hat. Jetzt behaupten die einen, das liege an der Hirnchemie. Aber ich sehe es anders und sage, es gibt psychische Gründe und Erlebnisse, die diese verursachen. Die meisten werden zustimmen, dass das zumindest teilweise Gründe sind. Wenn ich aber deshalb kein Selbstwertgefühl habe, weil meine Eltern und Mitschüler mich als Kind ständig wie Dreck behandelten, dann ist das ein Grund, den es sich aufzuarbeiten lohnt. Und wenn ich dann mittels Ströme am Gehirn oder Lichttherapie oder Beckenbodenmassage oder sonstwas wieder zu mehr Selbstbewusstsein komme, ist das Problem vielleicht emotional teilweise gelöst. Etwas hat sich in meinem Selbstbild verändert, usw. Jedoch geht selten jemand tiefer, wenn das Problem auf oberflächlicher Ebene gelöst ist, wenn die Diagnose als geheilt gilt, wenn man sich schon wieder besser fühlt und wieder gut funktionieren kann. Ist ja mit den Medis und der Verhaltenstherapie genauso. Es fragt ja auch keiner danach, was die Gründe dafür sind, dass das Immunsystem geschwächt wurde, um in Zukunft etwas dagegen zu unternehmen. Wer krank ist, nimmt die Medis und alles ist wieder fein (bis man wieder krank ist).
Und wer wenig Klarheit in den Träumen hat, hat auch Gründe jenseits von Hirnchemie. Gründe, die man betrachten könnte. Irgend etwas in unserem Leben und in der Vergangenheit mag dazu geführt haben, dass wir trüb durch die Welt gehen, dass wir stellenweise leichtgläubig sind, dass wir uns ungern mit unseren Schatten beschäftigen und sie daher ins Unbewusste abschieben, usw. Aber wer auf Knopfdruck Klarträume haben kann, interessiert sich so jemand noch für die Gründe? Wer es aufgrund von Techniken oder Hilfsmitteln lernt, im Traum mehr selbstreflexiv zu sein - möchte die Person noch tiefer hinab steigen und verstehen, was die initiale Blockade gegen Selbstreflexion war? Jedoch ist es denke ich leicht vorstellbar, dass so eine Ergründung noch viel geilere Klarheit zur Folge haben könnte. Also, keine Sorge, selbst mit Klartraum auf tatsächlichem, wirklichem ganz einfachen Knopfdruck, gibt es noch genug Potenzial, die Klarheit auf mehrere Etagenlevel zu erhöhen und für uns Klartraumelite weiterhin eine gute Möglichkeit, zu glänzen (oder sagen wir es positiver: Pionierarbeit zu leisten).
Ich glaube, das ist eine der großen Chancen von Technologien: Sie können eine Inspiration sein, ein Anstupser, ein Antrieb. Von da aus noch weiter wäre zumindest dann leichter. Wenn man das Interesse hätte. Und das ist zugleich die Gefahr der Technologien: Sie bieten angenehme Halb-Lösungen, die meist zu angenehm sind, um dass man dann noch das Interesse hätte, mehr vom Leben zu wollen (wenn es nicht emotional kostenlos ist). Aber es kann sein, dass diese oder jene Technologie anders ist. Das Internet soll ja auch die Welt retten. Vielleicht sind wir eines Tages nicht mehr auf Technologien angewiesen, weil wir dann gelernt haben werden, wieder durch uns selbst alles notwendige erreichen zu können. Wir werden kein Mängelwesen mehr sein, wir werden unsere vollen geistigen Fähigkeiten zu nutzen wissen, ohne große äußere Prothesen. Aber vielleicht werden wir zu diesem Zustand erst gelangen, wenn wir gerade den Gipfel der Technologie erreicht haben. Wittgensteins Leiter hinaufsteigen, um sie dann, ihr zu dank, davonwerfen zu können.
Eines ist mir jedenfalls klarer geworden: wonach es mich dürstet, sind keine Klarträume. Klarheit kann helfen, ja. Aber das primäre Ziel ist viel mehr das Verstehen und Befreien. Das Aufdecken der Ursachen und tiefer liegenden Gründe. Was immer dabei hilft, her damit
und wenn es nicht mehr hilft, wird es weg geworfen. Oder wie der gute alte Aleister Crowley sagt:
"Das Wort der Sünde ist Begrenzung. O Mann! Weise dein Weib nicht zurück, wenn sie will! O Liebhaber, wenn du willst, scheide! Es gibt kein Band, das die Getrennten zu vereinen vermag, außer der Liebe: alles andere ist ein Fluch. Verflucht! Verflucht sei es auf die Äonen! Hölle."
Bin nicht mehr hier, aber noch erreichbar.
Bitte keine coronaleugner