(24.11.2011, 21:32)Cloud82 schrieb: Muss nicht erstmal wahrhaftige Rationalität sich durchsetzen?
Ja, denke ich auch.
Zitat: Somit würde ich sagen, dass die vorherrschende Strukturen mehr emotionaler Natur sind als rationaler.
Ja, das ist ja, was ich in dem verlinkten Posting (Schaltkreise) geschrieben habe.
Trotzdem denke ich, dass man sagen kann, dass vor einiger Zeit, vielleicht bei den alten Griechen, eine neue Struktur des Bewusstseins aufgetreten ist. Sie ergänzte die vorher dominierende Struktur, die man "mythisch" nennen könnte, um die rationaler Erkenntnis. Darum "rationale Struktur".
Eine zentrale Behauptung dieser These ist eben, dass das, was wir heute so ganz normal als rational bezeichnen (unsere gewöhnliches Wachbewusstsein), nicht schon immer das Bewusstsein des Menschen geprägt hat sondern irgendwann im Laufe der Geschichte als etwas neues, vorher nicht existierendes emergiert ist.
Eine weitere Behauptung ist, dass eine neu entstandene Bewusstseinstruktur die vorigen nicht ersetzt oder ablöst oder so, sondern sie integriert. Rationales Denken soll also nicht die Emotionen ersetzen, sondern die Ratio ist etwas neues, das dann zusammen mit den Emotionen (u.a.) eine neue Bewusstseinsstruktur bildet, die alles vorherige einschliesst aber auch um neues erweitert.
So gesehen wäre es auch völlig falsch, hier irgendeine Wertung vorzunehmen, bzw. diese Theorien von Entwicklung des Bewusstseins so zu interpretieren, wie z.B. dass die Ratio der Emotion überlegen oder irgendwie besser sei, nur weil sie in der Entwicklung erst später auftritt.
Unter anderem das kann dann nämlich dazu führen, dass die Entwicklung gestört wird, es zu einem Regress in frühere Bewusstseinsstrukturen kommt und die eigentlich neu entstehende Struktur sich nicht voll entfalten kann. Und ich denke, in der Situation befinden wir uns heute.
Und übrigens, einer der interessantesten Aspekte (finde ich) an dieser ganzen Theorie über die Entwicklung des Bewusstseins ist, dass man diese Entwicklungsstufen sowie auch die Probleme in der Entwicklung nicht nur bei der Menschheit insgesamt bzw. ganzen Kulturen feststellen kann, sondern dass jeder Mensch für sich diese Entwicklung des Bewusstseins auch zu durchlaufen scheint... und dieselben Probleme auftreten können. Ähnlich wie es bei der biologischen Entwicklung ja auch ist mit der Ontogenese und der Phylogenese.
(24.11.2011, 22:20)datzifrau schrieb: Ja, ich muss das auch alles noch einmal kontrollieren, bevor ich raus gehe. Das liegt aber daran, dass ich nicht sonderlich viel Lust habe, dass die Bude abfackelt. Ich habe 2 Söhne, der Kleine dreht gerne am Herd herum. Und einmal kontrollieren reicht dann aber auch wirklich aus.
Das hat dann aber überhaupt nichts mit Kontrollzwang zu tun. Sogar ohne Söhne nicht.
(25.11.2011, 02:44)spell bound schrieb: allerdings würd ich nach wie vor sagen, ist vieles im dominierenden bewusstsein nicht rational, sondern rationalisierung. der begriff der ratio ist sozusagen korrumpiert, so ähnlich wie etwa der begriff der demokratie. meine these ist, insofern ählnich der von cloud, echte rationalität ist noch gar nicht richtig erreicht, denn sie würde gerade jene integration des emotionalen z.b. voraussetzen.
Ja, sehe ich auch so.
Zitat:allerdings seh ich bei clouds aussage wieder diese typische dichotomie von beidem; durchdachtheit bedeutet eben nicht zwingend weniger emotionalität als undurchdachtheit. und wenn es sie im konkreten fall bedeutet, ist diese durchdachtheit noch undurchdacht. emotionalität sollte man auch nicht mit impulsivität gleichsetzen. und rationalität nicht unbedingt als gegensatz zu impulsivität.
Genau, dieses Setzen von Gegensätzen ist glaube ich eines der wesentlichen Probleme. Genau wie die Ratio nicht die Emotionen ersetzen, sondern sie ergänzen soll, sollen auch die Emotionen nicht die Impulsivität ersetzen (also ich geh hier davon aus, dass von diesen dreien die Impulsivität die älteste Struktur ist, die Emotionen sich danach entwickelt haben und die Ratio als bisher letztes).
Die Sache ist auch die, dass wenn etwas Neues aus etwas Altem emergiert, dann kann dieses Neue nicht ohne das Alte existieren, andersherum dagegen ist das kein Problem (darum kann man auch völlig berechtigterweise von einer Entwicklungshierarchie sprechen, die man nur nicht mit einer Wertehierarchie verwechseln darf, was passiert, wenn man z.B. sagt, die Ratio sei besser als die Emotionen oder die Impulse/Triebe). Das bedeutet, man könnte - theoretisch - jetzt sofort die rationale Bewusstsseinstruktur auslöschen. Dann wären die vorigen Strukturen immer noch unbeschadet vorhanden. Man kann aber nicht die Triebe oder die Emotionen auslöschen und denken, die Ratio wäre dann noch vorhanden.
Ein anderer wichtiger Punkt, der damit zusammenhängt ist, dass man auch keine Stufen "überspringen" kann. Solange die rationale Struktur nicht ausgebildet wurde, wird die Entwicklung auch nicht zu möglicherweise weiteren Strukturen fortschreiten. Wir können also nicht sagen, ach komm, das mit der Ratio kriegen wir nicht hin, aber die ist doch sowieso nicht so wichtig, gehen wir einfach direkt weiter zu, was weiss ich, dem Nirvana oder dem Integralen oder was auch immer. Das wird nicht funktionieren, weil eben diese höher entwickelten Strukturen nicht emergieren können, wenn das dazu notwendige Fundament, die rationale Struktur, fehlt oder krank ist.
Das Ergebnis solcher Versuche ist dann die Regression in ältere Strukturen, die dann glorifiziert werden und deren Erfahrungen dann als Erfahrungen eines postrationalen Bewusstseins interpretiert werden, obwohl sie eigentlich prärational sind. Das ist dann nur die andere Seite der Medaille von dem, was die rationalen Fundamentalisten tun, wenn sie alle möglicherweise postrationalen Erfahrungen mit den prärationalen gleichsetzen.
Zitat:das wäre dann eine sehr eingeschränkte definition, was das kriterium der objektivität anbelangt z.b. ich würde es eher noch im sinne der kausalität sehen, bzw. der logischen bedingungen, die sowohl auf sachverhalte in der welt, wie auch - und das ist ja gerade mein punkt in dieser diskussion - auf solche im geist, in der psyche, bezogen werden können. das zeigt sich allein darin schon, dass wir auch für geistiges begriffe haben, die demnach auch in ihren strukturen analysiert werden können. darüber hinaus ist auch diese unterscheidung von objektiv und subjektiv zwar vielleicht keine völlig untaugliche, aber doch in ihrer dichotomisierung wieder eine zu extreme.
Naja eine perfekte inhaltliche Definition der Rationalität traue ich mir auch nicht zu. Mit der Objektivität hast du wohl recht, ich wollte auch gar nicht sagen, dass die Ratio objektiv sei und anderes nicht, aber ich denke, die Ratio ist eng verbunden mit der Vorstellung von einer objektiven Aussenwelt. Hm, vielleicht gilt das aber auch nur für ihre fehlentwickelte Form.
Dass man logisches Denken durchaus auch auf die inneren, geistigen Begriffe anwenden kann, denke ich auch, ich glaube nur nicht, dass man das Geistige vollständig mit Logik beschreiben kann - genausowenig wie das "Äussere". Es ist für mich eine Perspektive, eine Sicht auf die Welt, aber nicht die eine, die alle anderen überflüssig macht, weil sie alles lückenlos erklären kann und man somit neben der Logik nichts anderes mehr bräuchte. Das ist ja in meinen Augen genau der Fehler in der heutigen Zeit, dies zu glauben.
Zitat:Zitat:Absolut! Was aber grade Menschen, die sich für besonders rational halten, ja oft strikt ablehnen. Ich denke beispielhaft zeigt sich das in dem Konflikt zwischen Spiritualität und Wissenschaft.
vermutlich hast du das salopp formuliert, aber nur der vollständigkeit halber: diesen konflikt gibt es nicht wirklich zwischen spiritualität und wissenschaft im allgemeinen, oder gar in der mehrheit, sondern eher zwischen fundamentalisten, die eine dieser seiten auf ihre fahnen schreiben.
Ich hatte das sogar erst noch da stehen, habs dann aber weggelassen, da wir das ja
schon öfter hatten und ich das Fass jetzt nicht auch noch wieder aufmachen wollte hier.
Zitat:klingt interessant und erinnert etwas an hegels dialektik. was aber die historische analyse der aufklärung angeht, weiß ich nicht, ob ich dem zustimmen kann.
Ja, Hegel ist wohl ein starker Einfluss bei Wilber (heisst es immer, ich kenne Hegel nicht). Über die Aufklärung hat er sehr viel geschrieben, hab das vielleicht auch nicht ganz zutreffend bzw. zu vereinfachend wiedergegeben. Grundsätzlich halte ich das aber schon für plausibel, also diese Kernaussage, dass die Aufklärung (sozusagen als endgültiger Durchbruch der rationalen Struktur) zwar keinesfalls grundsätzlich zu verdammen ist und es Unsinn ist, sich die Zeit davor zurückzuwünschen, dass die Art wie sie stattgefunden hat aber durchaus zu kritisieren ist und dass viele unsere heutigen Probleme sich auf Fehlentwicklungen an dieser Stelle zurückführen lassen. Darauf, dass die Ratio die anderen Bewusstseinstrukturen nicht integriert, sondern ins Unbewusste unterdrückt hat und die dabei entstandene Bewusstseinsstruktur krank ist.
Insbesondere wenn Europäer sich als etwas besseres betrachten als andere Kulturen, weil diese ja die Aufklärung noch nicht durchlaufen hätten, wäre etwas weniger Selbstbejubelung und eine etwas kritischere Betrachtung der Aufklärung vielleicht angebracht. Grade damit vielleicht die Kulturen, die eine solche Aufklärug noch vor sich haben, nicht dieselben Fehler wiederholen, sondern die Entwicklung besser schaffen - und uns dann vielleicht sogar in unsere Entwicklung doch noch helfen können.
Zitat:was wir jetzt haben, ist eher eine bewusstseinsstruktur des scheinbar rationalen. eine vermeintliche weitere entwicklung im bewusstsein würde ich daher nicht postrational nennen, allerdings auch nicht rein rational; sagen wir, "integriert".
Versteh ich das richtig, du siehst diese jetzige Bewusstseinssstruktur des scheinbar rationalen nicht unbedingt als eine fehlentwickelte, kranke Variante der rationalen Bewusstseinsstruktur, sondern als einen "normalen" Entwicklungsschritt der der rationalen vorhergeht? Wobei du diese Struktur, in der das rationale voll ausgebildet, aber integriert ist, dann "integriert" nennst?
Also Gebser nennt ja wie gesagt die auf die rationale Struktur folgende die "integrale", wobei er mit "rationale Struktur" aber nicht meint, dass diese rein rational ist, sondern dass sie halt die erste ist, die das rationale integriert. Und da es im Grunde auf jeder Entwicklungsstufe so ist, dass die vorigen integriert werden, hab ich das nie so ganz verstanden, warum er die nächste Stufe "integral" nennt.
Zitat:man kann eben auch phobien und zwänge rational erklären, ohne sie zu rationalisieren, d.h. ohne das erleben auszuklammern. das ist mein punkt jedenfalls. und ich finde es sogar wichtig, den inhärenten sinn oder die kausale oder emotionale struktur hinter soetwas zu verstehen.
Da würde ich generell zustimmen. Ok, ich hatte diese Zwänge "irrational" genannt, aber das hab ich ja schon erklärt, wie ich es meinte. Ich schliesse nicht aus, dass man diese Zwänge rational erklären kann, insbesondere sowas wie mein Treppenstufenzählen dürfte recht banale, rational erklärbare Ursachen haben, und klar, im Sinne der Selbsterkenntnis sollte man versuchen, diese zu verstehen.
Zitat:Zitat:Du willst vielleicht darauf hinaus, dass ich, wenn ich der Frage nachgegangen wäre, vielleicht darauf gestossen wäre, dass das für anderes Verhalten genauso gilt.
ja, aber nicht nur. du wärest vermutlich auch auf die erschöpfende antwort gestoßen. irgendwann jedenfalls..
Meinst du damit jetzt das hier? :
Zitat:sich selbst zu verstehn ist allerdings der schlüssel, um andere zu verstehen. denn ohne sein erleben zu begreifen kann man sich auch nicht ins erleben anderer hineinversetzen.
Tschüss,
Ricky