Danke für den threadwiederbelebenden Beitrag, spell
(20.12.2016, 23:15)spell bound schrieb: Ist vielleicht alles nur Illusion?
Die Frage ergibt nach meinem Sprachverständnis gar keinen Sinn, und der Duden scheint mir dahingehend Recht zu geben:
http://www.duden.de/rechtschreibung/Illusion
Der Begriff Illusion bedingt den Begriff der Wirklichkeit. Die Illusion ist immer etwas das
anstatt der Wirklichkeit vorgetäuscht wird. Und zum Begriff der Täuschung lässt sich das Gleiche sagen. Wenn es kein "wahr" gäbe, könnte es auch kein "falsch" geben. Eine Täuschung wäre unmöglich.
Es kann somit gar nicht "alles" Täuschung sein, weil es dann keine Täuschung sein wäre.
nicht spell sondern ein hypothetischer Diskussionspartner von ihm schrieb:... Wir haben gar keinen Zugang zur objektiven Wirklichkeit, vielleicht gibt es sie nicht einmal. ...
"Zugang" ist relativ. Ich habe auch keinen "Zugang" zur Oberfläche des Pluto oder zum Inneren eines Protons in dem gleichen Sinne, wie ich einen Zugang zu meinem Wohnzimmer habe.
Ich kann z.B. hier über die objektive Wirklichkeit nachdenken. Ist das nicht bereits eine Art Zugang?
Aber vielleicht ist Denken auch nicht so meine Stärke

Dann kann ich immer noch meditieren, zeitweise auf Gedanken und/oder Sinneswahrnehmungen verzichten – meinetwegen auch bloß in einem Sammadhi-Tank. Auch dann wird immer noch deutlich mehr als "Nichts" übrigbleiben. Wenn Erleuchtung = Nihilismus wäre, würde sich doch kein Mensch dafür interessieren, denke ich.
Zitat: Denn wäre es vorstellbar, wäre es wieder wahrnehmbar.
Hier erschiene es mir sinnvoller, zwischen "Vorstellung" und "Wahrnehmung" zu trennen. Ersterer ist meines Erachtens ein wesentlich weiterer Begriff als Letzterer. Und selbst wo die Vorstellung versagt, ist das abstrakte Denken noch längst nicht am Ende.
Ich kann mir durch Bildung von Modellen eine Vorstellung von etwas erschaffen, das sich nicht direkt wahrnehmen lässt. Natürlich deckt sich diese Vorstellung nur teilweise mit der Wirklichkeit, aber in vielen Fällen reicht das eben bereits.
Das Schalenmodell der Atome mag ziemlich krude sein, aber dem Chemiker genügt es, um damit Chemie zu treiben.
Ich kann mir sogar Modelle erschaffen von Dingen, bei denen die konkretere Vorstellung vollkommen versagt: z.B. einen Raum mit fünf oder mehr räumlichen Dimensionen. Wenn ich mich auf die Koordinaten der "Schiffe" beschränke, kann ich in so einem Raum sogar "Schiffe versenken" spielen.
Oder "Unendlichkeit". Jeder Grundschüler lernt, dass es unendlich viele natürliche Zahlen gibt. Aber kann man die Unendlichkeit deshalb "wahrnehmen"?
Apropos Zahl: Kann man eine einfache Zahl (von komplizierteren mathematischen Konstrukten mal ganz zu schweigen) wirklich "wahrnehmen"?
Sind die über-abzählbar-unendlich vielen reellen Zahlen wirklich "mehr" als die natürlichen Zahlen?
Ich kann durch abstraktes Denken auch der Wirklichkeit auf die Schliche kommen, nämlich wirklichen Phänomenen, die sich nicht – zumindest nicht nach meinem Verständnis des Wortes – wahrnehmen lassen.
Wenn die einzige "Auswirkung" von etwas ist, dass unsere Berechnungen nicht aufgehen, wie z.B. bei der dunkeln Materie, die Du genannt hast, dann gehört mehr dazu, um sie "für wahr zu halten", als nur das Verbuchen irgendwelcher direkt messbarer Auswirkungen. Dann braucht es nämlich außerdem noch gedankliche Kühnheit – ein Über-den-Tellerrand-denken.
Wenn ich laut meinem Kontoauszug für 100 Euro Lebensmittel gekauft habe, aber in meiner Speisekammer nur Lebensmittel für 75 Euro vorfinde – werde ich dann etwa denken: "Dann werden sich in meiner Speisekammer eben noch für 25 Euro "dunkle Lebensmittel" befinden, die ich bloß nicht wahrnehmen kann"?

Eher werde ich von einem Verlust der Lebensmittel oder einem Fehler bei der Abbuchung ausgehen.
Nicht so die Physiker. Denn für sie hat es sich in der Vergangenheit oft bewährt, etwas anzunehmen, über das sich noch "nichts aussagen" lässt.
Zitat:Wenn man aber etwas fordert, das keinerlei Bezug zu unserer Wahrnehmung haben soll, dann kann man noch nicht einmal darüber aussagen, was das sein sollte.
Hier würde ich eben "Vorstellung" oder "Denken" statt "Wahrnehmung" schreiben. Sonst greifen meine obigen Beispiele.
Abgesehen davon gebe ich Dir recht.
Ich habe auch oft das Gefühl, dass unter Esoterikern das abstrakte Denken viel zu oft und viel zu schnell verworfen wird – fast als wäre das praktisch, weil man sich dann damit nicht mehr anstrengen müsste.
Zitat:Insgesamt hat der gesamte Unbegriff gar keinen Zweck. Was will man damit? Warum kommt aber der Drang, so etwas zu fordern? Warum sagt man: das, was wir gewöhnlich "unabhängig von der Wahrnehmung" nennen, ist nicht unabhängig genug?
Siehe meinen letzten Satz.
Zitat:Wirklichkeit ... ist doch etwas ... zumindest indirekt Wahrnehmbares, vermittels unserer Sinne und der Auswirkungen die man beobachtet und der Intersubjektivität. Es ist eine falsche Forderung, dass sie davon unabhängig sein sollte. Die Unabhängigkeit der objektiven Wirklichkeit ist nicht eine Unabhängigkeit generell von jeglicher Wahrnehmung, sondern nur von einer speziellen Wahrnehmung.
Ja. Denn sogar alle "nondualen" Erlebnisse und Meditationserfahrungen sind letztendlich genaus das: Erlebnisse und Erfahrungen. Das "Ich" verschwindet, das begriffliche Denken versiegt, das reine Sein tritt zum Vorschein. Aber letztendlich, nachträglich, wird davon erzählt (sonst gäbe es all diese Begriffe ja gar nicht).
Also gehört es nach Deiner Definition auch dem Bereich der Wahrnehmung an; mindestens ebenso sehr wie dunkle Materie, möchte ich behaupten.
Fazit – uff, was wollte ich eigentlich sagen?
1. Der menschliche Verstand hat viel mehr drauf, als was man im engeren Sinne unter Wahrnehmung versteht. Man kann sich die "unmöglichsten" Konstrukte denken, wenn man nur weit genug abstrahiert.
Und man wird bestimmt nicht erleuchtet, indem man das logische Denken schlechtredet

Und da unsere Sprache sogar sehr gut darin ist, nicht-wirkliche und nicht-existente Dinge zu formulieren (rein sprachlich gesehen, kann ich ganz unproblematisch in einem runden Saal in die Ecke spucken oder eine Drehtür zuschlagen

), sehe ich auch nicht ein, weshalb sie vor der "wahren" Wirklichkeit halt machen sollte, selbst wenn diese noch so leer sein sollte.
2. Eine Wirklichkeit von der niemand niemals bis in alle Ewigkeit etwas mitkriegt, ist keine Wirklichkeit, weil sie keine Wirkung zeigt.
3. Dafür, dass ich Dir, spell, weitgehend zustimme und sich meine Einwände allein auf die Verwendung bestimmter Begriffe beschränken, habe ich, wie es mir nun vorkommt, womöglich zu viel geschrieben, eventuell sogar teilweise OT, sorry
Edit: Und dazu, Mrs. Mortisagas Beitrag zu lesen, den ich nun beim Benutzen der Vorschau immerhin bereits entdeckt habe, bin ich auch noch nicht gekommen.