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Zerfall der Zivilisation

Zerfall der Zivilisation
#1
18.01.2021, 21:22 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 18.01.2021, 21:23 von Zed.)
Jonathan Blow, bekannt als der Entwickler der Spiele Braid und The Witness, hat vor ein paar Jahren einen exzellenten Vortrag zum Zerfall der Zivilisation gehalten. Interessierten an Programmierung und Informationstechnologie kann ich den gesamten Vortrag wirklich wärmstens empfehlen:

   Jonathan Blow: Preventing the Collapse of Civilisation, youtube/ZSRHeXYDLko

In diesem Vortrag sagt er – in Bezug auf Software – ab etwa 18:57:
Jonathan Blow schrieb:These collapses, like we are talking about – that Bronze Age Collapse was massive: Like, all these civilizations were destroyed, but it took a hundred years. So if you are at the beginning of that collapse in the first twenty years, you might think: “Well, … things aren’t as good as they were twenty years ago, but it’s fine; we’re basically the same.” Right? But then, you keep thinking that, you keep thinking that – every twenty years another couple of cities get burned to the ground and then, like, eventually there’s nothing. Right? The fall of the Roman Empire was about three hundred years. So if you’re in the middle of a very slow collapse like that, would you recognize it? Would you know how it looked like from the inside?
Im weiteren Vortrag argumentiert er (wie ich finde, sehr erfolgreich) dafür, dass ein solcher Zerfall im Reiche der Software schon längst im Gange ist. Davor gibt er übrigens sehr schöne Beispiele für verschollene Technologie, um zunächst klar zu machen, dass zivilisatorische Entwicklung keineswegs stets ein linearer Fortschritt sein muss.

Treiben wir die Frage etwas weiter: Befinden wir uns im Allgmeinen inmitten eines zivilisatorischen Zerfalls? Welche generellen Tendenzen können wir denn in der Entwicklung der abendländischen Zivilisation beobachten? Was droht uns? Und welche Mittel haben wir, um diesen Drohungen bewusst entgegen zu treten?

Eine allgemeine und völlig natürliche Neigung der ständigen Technologisierung, welcher wir unterliegen, ist die immer weiter vordringende Abhängigmachung des Menschen von den durch ihn geschaffenen Technologien bei gleichzeitig zunehmender Unfähigkeit, diese selbst zu schaffen und zu warten: Durch neue Technologien werden ja nicht nur neue Möglichkeiten geschaffen, sondern es verdrängen ja diese stets auch immer weiter die bestehenden Weisen, bis der Umgang mit diesen verlernt wird oder die nötige Infrastruktur um diese herum soweit zerfällt, dass deren Nutzung unökonomisch oder gar unmöglich gemacht wird, und man somit in neue Abhängigkeiten von diesen Technologien gerät, die durch ihre erhöhte Komplexität wiederum weniger zugänglich sind. Außerdem findet eine Resozialisierung um die neuen Technologien statt, die schnell zur Ausgrenzung führt.

Beispielsweise werden Pferdewagen, Motorwagen, klassische Automobile und die heutigen Rechner auf Räder zwar zunehmend ausgeklügelter, aber dafür auch schwieriger zu verstehen, zu bauen und zu reparieren. Heute jedoch sind Pferdewagen nicht mehr auf unseren Straßen einsetzbar, Motorwagen werden nicht preiswert hergestellt und entsprächen vermutlich nicht länger den gesetzlichen Sicherheitsanforderungen heutzutage. Und wer sowas heute nutzen will, ist ein Idiot. Der Kühlschrank ist sehr nützlich, führt jedoch dazu, dass immer weniger Menschen wissen, wie man Fleisch haltbar macht, etwa durch Pökeln und Räuchern. Und natürlich sind Prozessoren und Rechner das beste Beispiel. Zwar können wir inzwischen wahnsinnig schnelle Prozessoren bauen, aber kein einzelner Mensch versteht mehr den kompletten Aufbau eines handelsüblichen Prozessors. Wir machen bereits unser Leben zu weiten Teilen abhängig von Systemen, die längst niemand mehr wirklich zu verstehen imstande ist.

Eine weitere Neigung der Technologisierung, die ich beobachte, ist die der Fomizifizierung, wie ich es nenne: Der Mensch wird immer weiter zur Ameise degradiert. Immer mehr bildet sich eine systematische Gesellschaft aus, welche Individualität verdrängt, indem sie an ihre Mitglieder hohe Anforderungen an Funktionalität stellt. Kurzum: Der Mensch wird immer mehr auf Angepasstheit an die gesellschaftliche Ordnung selektiert, welche den Menschen zunehmend als austauschbare Funktionseinheit begreift. Beispielsweise wird der Mensch vom Handwerker zum Fließbandarbeiter und gerät in immer engere Schein- und Ausweiszwänge, von Schulzeugnis bis Führerschein und Sprachnachweis, Lebenslauf und Versichertenkarte. Hinter dieser Formizifizierung steckt natürlich eine große Gefahr: Ohne genügend eigenständig denkende und agierende Menschen wird die Gesellschaft (und damit die von ihr abhängige Menschheit) besonders krisenanfällig. Beispielsweise wären die meisten Menschen bei einem flächendeckenden, mehrtätigen Stromausfall einfach ihrem Schicksal ausgeliefert.

Eine weitere, vielleicht nur scheinbare, Entwicklung sehe ich in einem moralischen Verfall: Mit unserem Wohlstand geht natürlich auch eine gewisse Erwartungshaltung an diesen einher sowie eine Bequemlichkeit. Ein hartes Leben wie das, was unsere Ahnen haben bestreiten müssen, erscheint uns kaum noch lebenswert, obwohl diese es ja sehr wohl durchlebt haben. Und statt uns möglichst um den Erhalt unseres Wohlstandes zu bemühen, indem wir die Systeme zu verstehen versuchen, die uns diesen bescheren, verbringen wir die meiste unserer Freizeit natürlich im Müßiggang. Zu sehr kann man uns dies vielleicht auch gar nicht verübeln, denn wir sind einfach auch überfordert mit all der Technologie, die uns unseren Alltag garantiert.


Selbstverständlich gibt es aber auch dagegen wirkende Prozesse: Wir können durch die Digitalisierung unser Wissen zu unseren Technologien viel leichter festhalten und verbreiten und der Wohlstand und die neue Technologie sorgt an vielen Stellen für eine Rückgängigmachung bestimmter negativer Wandlungen, zum Beispiel haben wir natürlich viel weniger Fließarbeit als noch vor hundert Jahren. Ich denke, dass sind auch ganz gute Ansatzpunkte, um den Zerfall der Zivilisation zumindest gewissen Einhalt zu gebieten. Auch schön finde ich die vielen Projekte, die zurückkehren zu einer Lokalisierung der Wirtschaft (vor allem der Landwirtschaft), zur Dezentralisierung der Technologie (wie durch die Free-Software-Movement) oder zu Erneuerung und Vereinfachung bestehender Technologien oder der Kombination all dieser Dinge (wie beim Projekt Open Source Ecology).

Sorgen machen mir hingegen Entwicklungen wie die Trends von Machine Learning oder von Kryptowährungen sowie die Entwicklung von Biotechnologie.

Wie seht ihr dies?
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RE: Zerfall der Zivilisation
#2
26.01.2021, 16:51
Ich sehe Fortschritt positiv. Die Ameise, die besonders viel kann, wird eben Queen oder King des lokalen Haufens...
Neue technische Tools geben denen einen riesen Vorteil, die als early adopter vorn dran sind.
Solange man die Tools vor allen anderen hat, ist das eigene Leben leichter.
Wenn diese Tools dann mainstream werden und als Standard vorausgesetzt, wird das Leben wieder eine Stufe schneller, komplexer, schwieriger. Bis man wieder die aktuellsten, besten und effizientesten Tools hat - oder genug Ameisen, die für einen arbeiten.

Komplexe Ziele wie die Kolonisierung des Alls (=die langfristige Sicherung des Überlebens, auch über die Lebensdauer unserer Sonne hinaus) brauchen eben die Zusammenarbeit von vielen vielen vielen Ameisen.
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#3
27.01.2021, 10:47
[+] 1 User sagt Danke! Zed für diesen Beitrag
(26.01.2021, 16:51)Raipat schrieb: Ich sehe Fortschritt positiv. Die Ameise, die besonders viel kann, wird eben Queen oder King des lokalen Haufens...
Neue technische Tools geben denen einen riesen Vorteil, die als early adopter vorn dran sind.
Solange man die Tools vor allen anderen hat, ist das eigene Leben leichter.
Wenn diese Tools dann mainstream werden und als Standard vorausgesetzt, wird das Leben wieder eine Stufe schneller, komplexer, schwieriger. Bis man wieder die aktuellsten, besten und effizientesten Tools hat - oder genug Ameisen, die für einen arbeiten.

Komplexe Ziele wie die Kolonisierung des Alls (=die langfristige Sicherung des Überlebens, auch über die Lebensdauer unserer Sonne hinaus) brauchen eben die Zusammenarbeit von vielen vielen vielen Ameisen.
Führt das, so wie du das erzählst, nicht einfach zu einer erhöhten Ungleichheit, wonach Wandlungsfähige und -willige materiell stark bevorzugt werden, also in der Regel sowas wie skrupellose und/oder hochintelligente Menschen? Hältst du die langfristige Sicherung menschlichen Überlebens für ein inhärent sinnvolles und bedeutsames Ziel? Auch dann, wenn mit ihr ein Verlust dessen einhergeht, was wir als das Menschliche im Menschen ansehen und schätzen? Siehst du immaterielle Schätze nicht in Gefahr durch die ewig fortschreitende Technologisierung?
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RE: –
#4
29.01.2021, 23:54
(27.01.2021, 10:47)Zed schrieb: Führt das, so wie du das erzählst, nicht einfach zu einer erhöhten Ungleichheit, wonach Wandlungsfähige und -willige materiell stark bevorzugt werden, also in der Regel sowas wie skrupellose und/oder hochintelligente Menschen? Hältst du die langfristige Sicherung menschlichen Überlebens für ein inhärent sinnvolles und bedeutsames Ziel?

Ja.

(27.01.2021, 10:47)Zed schrieb: Siehst du immaterielle Schätze nicht in Gefahr durch die ewig fortschreitende Technologisierung?

nein.
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#5
30.01.2021, 09:04 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 30.01.2021, 09:05 von Zed.)
(29.01.2021, 23:54)Raipat schrieb:
(27.01.2021, 10:47)Zed schrieb: Führt das, so wie du das erzählst, nicht einfach zu einer erhöhten Ungleichheit, wonach Wandlungsfähige und -willige materiell stark bevorzugt werden, also in der Regel sowas wie skrupellose und/oder hochintelligente Menschen?
Ja.
Findst das gut?

Raipat schrieb:
Zed schrieb:Siehst du immaterielle Schätze nicht in Gefahr durch die ewig fortschreitende Technologisierung?
nein.
Weil du die verloren gehenden Schätze mit neu gewonnen aufwiegst?
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RE: Zerfall der Zivilisation
#6
30.01.2021, 12:58
wenn man ins All will, muss man bereit sein, die zurückzulassen, die das nicht wollen oder können.
Die größte nächste Aufgabe auf dem Weg dorthin besteht darin, das Recht des Stärkeren durch ein Recht des Intelligenteren zu ersetzen.
Wenn der Klügere weiter nachgibt, wird die Welt weiter von den Dummen beherrscht. Oder von den Skupellosen.
Insofern finde ich alles, was mit Fortschritt zu tun hat, gut und richtig. Ich vertraue darauf, dass nichts verloren geht, was noch benötigt würde. Ich vertraue darauf, dass es für alle "Schätze", die wirklich wichtig sind, Hüter und Bewahrer gibt.
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To boldly split infinitives …
#7
30.01.2021, 13:36 (Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 30.01.2021, 16:51 von Zed.)
(30.01.2021, 12:58)Raipat schrieb: wenn man ins All will, muss man bereit sein, die zurückzulassen, die das nicht wollen oder können.
Die größte nächste Aufgabe auf dem Weg dorthin besteht darin, das Recht des Stärkeren durch ein Recht des Intelligenteren zu ersetzen.
Wenn der Klügere weiter nachgibt, wird die Welt weiter von den Dummen beherrscht. Oder von den Skupellosen.
Insofern finde ich alles, was mit Fortschritt zu tun hat, gut und richtig. Ich vertraue darauf, dass nichts verloren geht, was noch benötigt würde. Ich vertraue darauf, dass es für alle "Schätze", die wirklich wichtig sind, Hüter und Bewahrer gibt.
Ah, verstehe. Also Star Trek.

Nachtrag. Hm, das ist mir jetzt doch zu herablassend dafür, dass ich eigentlich keine Ahnung habe. Vor allem habe ich auch nur ein, zwei Star-Trek-Folgen geguckt und kenne den Rest davon auch nur aus Internet-Kultur und Erzählungen von einem Freund, der früher Star Trek geschaut hat. Jedenfalls bist du sehr schnell mit dem Fortschritt ins Futuristische dahingezogen und jetzt scheinst du sogar eine gewisse Moralität aus deinem Wunsch nach einer interstellaren Zivilisation abzuleiten.

Was ich etwas naïv finde (und mich zu diesem Beitrag bewogen hat), ist zu übersehen, dass der reine Erhalt von kulturellen Gütern eben nicht dasselbe ist wie die Bewahrung des Feuers, welches sie verkörpern. Französische Esskultur etwa ist kein bloßes Rezeptbuch in einer Glasvitrine, das man hin und wieder herausnimmt, um die Köstlichkeiten der Franzosen nachzukochen aus synthetisch produzierten Kartoffeln, Zwiebeln und Bohnen und durch Nanotechnologie ermöglichten Fleischersatz, wenn man gerade in seinem Raumgefährt auf der Reise zwischen zwei Sternen ein wenig Langeweile hat und sich selbst kultivieren möchte. Kompositionen leben nicht länger, wenn sie ihre Existenz nur noch in Partituren versteinert fortsetzen, ob sie nun ergänzt werden können durch einen gut erhaltenen und reichen Fundus von Aufnahmen ihrer Interpretationen oder nicht – und nichteinmal, wenn man sie in einem Themenabend noch einmal aufführt nach bester Rekonstruktion unter Anleitung eines Experten. Und gesprochenes Italienisch ist natürlich sehr verschieden von der italienischen Literatur, die man sehr gut archivieren kann.

Wie ich dich kenne, schätze ich jedoch, dass du dir dessen sehr wohl bewusst bist …

Lass mich mal wieder die Brücke zurück zum Thema schlagen: Kulturelle Güter werden stets ersetzt, könnte man sagen. Was jedoch unter Technologisierung geschieht, ist die Entfernung zwischen uns und den lebenden, kulturellen Gütern – Entfernung gemessen an den Länge der Abhängigkeitsketten, die zwischen der Kultur und der Natur stehen. Wer sich stets Musik anmachen kann, muss nicht selbst singen. Und wer nicht singt, verlernt das Singen. Und so wird das Singen ersetzt durch das bloße Hören. Aber dafür braucht man Tonträger, Lautsprecher, Strom. Oder besser Rechner. Am besten Internet und sowas wie Spotify. Und wie macht man überhaupt Musik? Ich kann nicht singen, ich kenne aber einiges an klassischer Musik und nicht wenig an Musiktheorie. Aber ich kann nicht singen. Ich bin keine Musikquelle, ich bin eine Musiksenke. Ich bin nicht das Leben der Musik, sondern ihr Tod. Gut, das ist jetzt allerdings kultureller Zerfall, das ist vielleicht auch etwas verschieden vom zivlisatorischen.
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