Schamanisches Träumen - Das Verschieben der Wirklichkeit.
Wird unsere Realität im Wach- oder Traumbewusstsein geschaffen?
Ich frage mich manchmal, ob unsere Realität eigentlich im Wachbewusstsein oder im Traumbewusstsein entsteht. Was, wenn die Unterscheidung zwischen den beiden nur eine Illusion ist, wie es manche nonduale Ansätze vermuten?
Diese Frage bleibt für mich offen. Auf der einen Seite gibt es das, was wir in der westlichen Welt gelernt haben – dass das Wachleben real ist und Träume eher Phantasie oder Verarbeitung.
Aber ist das wirklich alles?
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Ich frage mich manchmal, ob unsere Realität eigentlich im Wachbewusstsein oder im Traumbewusstsein entsteht. Was, wenn die Unterscheidung zwischen den beiden nur eine Illusion ist, wie es manche nonduale Ansätze vermuten?
Diese Frage bleibt für mich offen. Auf der einen Seite gibt es das, was wir in der westlichen Welt gelernt haben – dass das Wachleben real ist und Träume eher Phantasie oder Verarbeitung.
Aber ist das wirklich alles?
Zitat:Classen, N. (2016). Das Wissen der Tolteken. Kapitel 2.1: Traum, Tod und Transzendenz (gekürzt und angepasst).
So schreibt die Jung-Schülerin Marie-Luise von Franz über die Naskapi: »Diese Waldjäger leben so einsam in kleinen Familiengruppen, daß sie keine Stammesbräuche und religiöse Anschauungen oder Riten entwickeln konnten. Daher verlassen sich die Naskapi-Jäger nur auf ihre inneren unbewußten Eingebungen und Träume.
Sie lehren, daß die Seele des Menschen nichts anderes sei als ein innerer Gefährte, den sie als mein Freund oder als Mista’peo = großer Mann bezeichnen. Er wohnt im Herzen des einzelnen und ist unsterblich. Diejenigen Naskapi, welche auf ihre Träume eingehen und ihren verborgenen Sinn zu deuten versuchen und dessen Wahrheit ausprobieren, können in eine tiefere Verbindung mit dem ›großen Mann‹ treten. Er begünstigt solche Leute und schickt ihnen mehr oder bessere Träume. Neben dieser Hauptverpflichtung des Individuums, den Anweisungen seiner Träume zu folgen, besteht eine weitere Pflicht: die Träume durch Kunstdarstellungen zu verewigen. (…) Die Träume geben somit den Naskapi eine vollständige Orientierung, auch in Beziehung zur äußeren Natur, das heißt zu Jagdmöglichkeiten, Wetter und anderen Umständen, von denen sie abhängen.«
Der Ethnologe Meinhard Schuster berichtet, daß die Naskapi-Jäger vor der Jagd einen Jagdtraum haben müssen, um z.B. den einzuschlagenden Weg, der zum Jagderfolg führt, zu kennen. Nicht nur, daß diese Methode offensichtlich funktioniert – was durch die seit Jahrhunderten belegte Existenz der Naskapi in einer unwirtlichen Umgebung ausreichend belegt sein dürfte –, sie sehen in der Kopplung von Jagdtraum und Jagderfolg im ersteren den wichtigeren Teil des Gesamt-Ereignisses. Schuster sagt über die Naskapi, »daß ohne den entsprechenden Traum kaum Jagderfolg zu erwarten ist, nach dem Traumsieg aber der konkrete Schuß nur den minder schweren, gewissermaßen selbstverständlichen Vollzug des Traumes auf der körperlichen Ebene der Dinge darstellt.« Für die Naskapi stellt der Traum also eine direkt nutzbare Funktion ihres Bewußtseins dar, d.h. sie benutzen ihr Traumwissen auf eine so selbstverständliche Art zum Gewinnen von Information über ihre Umwelt, wie die abendländischen Menschen zum gleichen Zweck ihre Vernunft einsetzen. In diesem Material über den Naskapi-Traumkult sind viele wesentliche Merkmale der typischen Betrachtung des Traumes bei den alten Natur- und Kulturvölkern enthalten, von denen im Folgenden einige vergleichend herausgearbeitet werden sollen.
Der Große Mann der Naskapi stellt sich als Erfinder und Lenker der Träume dar. Er ist eine Personifikation der »Traumseele«, die häufig auch als »Freiseele« bezeichnet wird, da sie den Körper des Träumers zeitweise verlassen kann, ohne daß der Tod eintritt. Sie ist zu unterscheiden von der »Atem-« oder »Lebensseele«, die ständig an den physischen Körper gebunden ist und ohne die dieser nicht weiterleben könnte. Eine solche Unterscheidung finden wir laut Schuster bei Natur- und Kulturvölkern überall auf der Erde. Was die Konzeption der Seele anbelangt, ist die abendländische monistische Auffassung arm an Ausdrucksformen für diesen Bereich. Die Naturvölker unterscheiden häufig verschiedene Seelen, oft fünf verschiedene für ein und dieselbe physische Person. Die grobe Trennung von zwei verschiedenen Seelen des Menschen scheint aber allgemein verbreitet zu sein. Der Hinduismus unterscheidet zwischen der »goldenen Seele« (Lebensseele) und der »silbernen Seele« (Traumseele). Im Traum verläßt die silberne Seele den Körper und nimmt in ihren Träumen andere Orte der Welt oder gar andere Welten wahr.
Die Aymara-Indianer trennen zwischen der »großen Seele« (Lebensseele) und der »kleinen Seele« (Traumseele). Diese Vorstellung deckt sich weitgehend mit der des Hinduismus. Die Traumseele ist demnach während ihrer Reise durch ein dünnes »Lichtband« mit der Lebensseele verknüpft, das sich beliebig dehnen läßt. An diesem Band zieht sich die Traumseele nach Beendigung ihrer Reise zurück zur Lebensseele und dem physischen Körper. Die altägyptischen Seelenlehren unterscheiden mindestens drei seelische Aspekte: den »Ka«, den »ach« und den »bai«. Der Ka ist das Prinzip der Lebenskraft und kann daher am ehesten mit der Lebensseele in Verbindung gebracht werden. Der ach steht damit scheinbar eng in Verbindung. Die eigentliche Traumseele in der altägyptischen Vorstellung ist jedoch der bai. Er wird in alten Darstellungen als Vogel mit menschlichem Kopf gezeigt. Er trägt daher den Beinamen »Seelenvogel«.
In der toltekischen Terminologie entspricht die Traumseele dem »Traumkörper« oder »Doppelgänger«. Dieser kann vom Träumer jedoch nicht nur im Schlaf benutzt werden, er kann auch – bei einiger Übung des Träumers – im Wachzustand vom Körper und dem leuchtenden Ei (Lebensseele) abgespalten werden und auch selbständig handeln. Die Vorstellung einer selbständigen Traumseele ist offenbar weit verbreitet. Als allgemein dürfte auch die Vorstellung von der Unsterblichkeit dieses Wesensteils gelten, wie wir es bereits von den Naskapi erfahren haben. So wurde auch die bai-Seele von den alten Ägyptern als unsterblich angesehen. Ihr Totenkult kreiste um diese Vorstellung. Die Pyramiden und Grabanlagen hatten daher an ihrer Ostseite einen symbolischen Ein- oder Ausgang, oft in Form einer aufgemalten Tür. An diesen Türen finden sich auch meist Abbildungen des Seelenvogels, der die bai-Seele symbolisiert.
Auch die Mumifizierung des physischen Körpers sowie das symbolische Loch im Deckel des Sarkophags dienten dem Kult des unsterblichen bais. All diese Vorkehrungen sollten es dem bai ermöglichen, nach Belieben umherzuschweifen und auch zum Körper als Ruhestätte und Ausgangsbasis zurückzukehren. Aber nicht nur die Kulte der Naturvölker und der alten Kulturen gehen von der Unsterblichkeit der Seele aus. Auf dieser Vorstellung basieren ja auch die heutigen großen Weltreligionen, wie Buddhismus, Islam oder Christentum. C.G. Jung sagt über die Seelenvorstellung: »Wenn es keinen Raum hat, so hat es keinen Körper. Körper sterben, aber Unsichtbares, Unräumliches, kann es verschwinden?«
Auch die toltekische Lehre geht von der Unsterblichkeit des Nagual aus: »Das Tonal beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod, aber das Nagual endet niemals. Das Nagual ist grenzenlos.« Auf der Seite des Nagual spielt der Tod keine Rolle. Wir können zwar im Traum ein Todeserlebnis haben und auf verschiedene Weise sterben, aber es hat keine Bedeutung – wir träumen einfach weiter oder wachen auf. Das Ich, unsere Person und unser physischer Körper, ist der sterbliche Teil unseres Gesamt-Selbst. Das Rätsel des Todes hat den Menschen schon seit Anbeginn der Zeiten beschäftigt, und erste nachweisliche Kulthandlungen der Urmenschen waren erste rituelle Bestattungen. Dieser frühe Totenkult zeugt bereits von der Vorstellung des Weiterlebens eines Teils des Menschen nach dem physischen Tod. Als Nachweis für diese Vorstellung bei den Urmenschen gilt im allgemeinen das Vorhandensein von Grabbeigaben wie Nahrung, Kleidung und Waffen etc., die der Tote auf seiner Reise in die als jenseitig vorgestellte Geisterwelt benötigen würde.
Die australischen Aborigines teilen ebenfalls die Ansicht von der absoluten Priorität der Traumwirklichkeit, der sogenannten »Traumzeit«, die sie mit der mythischen Urzeit identifizieren. Die Aborigines leben auch heute noch auf Steinzeitstufe; sie haben ihre archaische Lebensweise über die letzten 40.000 Jahre weitgehend unverändert beibehalten, soweit die Abkömmlinge Europas sie nicht zerstört haben. Der Traumkult der Aborigines geht so weit, daß die Männer, die Vater werden wollen, ihre zukünftigen Kinder erst träumen müssen. Der künftige Vater muß sich dazu an den heiligen Ort seiner Sippe begeben, an den »Ort, wo die Kinder geträumt werden«. Der Ethnologe Schuster schreibt über den Brauch, ein Kind zu träumen: »(…) dessen geistiger Wesensteil kann also nur gewonnen werden, wo die Vorfahren präsent und als ›Geistkinder‹ präexistent sind. Dorthin wird das Neugeborene auch seinerseits nach dem Tode zurückkehren. Träumte der Vater nicht, so wäre der biologische Zeugungsakt ohne Wirkung – eine Auskunft, die bei manchen frühen europäischen Beobachtern zu der törichten Meinung führte, den einheimischen Australiern sei der Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt unbekannt. Bekannt war er schon, aber er wurde nicht als genügend erachtet für die Geburt eines Menschenwesens: Die Seele des Kindes mußte an einem jenseitigen Orte erlangt werden.«
Ähnliche Sitten sind bei den Indianern Nordamerikas verbreitet. Bei den Ojibwa-Indianern hat der zukünftige Vater die Pflicht, den Namen seines Kindes vor der Zeugung zu träumen. Stellt sich der entsprechende Traum nicht ein, so kann er einen guten Freund bitten, den Namen für ihn zu träumen. Wir haben es bei all diesen Phänomenen offenbar nicht nur mit einem Einzelfall zu tun, den man beliebig als skurrile Anschauung eines primitiven Volkes abtun könnte. Vielmehr ist die Vorstellung von der unsterblichen Traumseele des Menschen ein allgemeines Kulturgut, eine uralte Erbschaft. Diese Traumseele wird in Verbindung gebracht mit Geburt und Tod des Menschen, sie beinhaltet also ein Moment der Transzendenz, ein Überschreiten der Grenzen vom Diesseits zum Jenseits oder umgekehrt. Es ist diese sinngebende Transzendenz, die die Menschen in den Natur- und Kulturvölkern schon immer in ihren Träumen gesucht haben. Sie benötigen diese jenseitige »Bescheinigung« als geistige Daseinsberechtigung. Derselbe Sinn steckt in den Worten von Jesus: »Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch; was aus dem Geist geboren ist, ist Geist. Wundere dich nicht darüber, daß ich zu dir sagte, ihr müßt von oben her geboren werden.« Die Daseinsberechtigung eines geistigen, seelischen Prinzips kann nämlich nicht einfach aus der Stofflichkeit der Dinge abgeleitet werden, auch wenn der materialistische Zeitgeist uns das vorgaukeln will.
Für die nordamerikanischen Indianer sind Träume und Visionen aus solchen Gründen der Transzendenz von einer großen Bedeutung, die sich aus der Perspektive des rationalistischen Abendländers kaum ermessen läßt. So müssen die Jungen bei den Sioux zuerst eine spezielle Vision, einen Traum erlangen, um in die Männergesellschaft aufgenommen zu werden. Dazu müssen sie mehrere Tage allein in einer Visionsgrube ohne Wasser und Nahrung ausharren und auf ihre Vision, ihren Traum warten. Wenn sich dieser dann endlich einstellt, ist der junge Sioux kein Kind mehr, sondern ein voll akzeptierter Mann. Der Traum, den er hatte, bestimmt von diesem Moment an sein ganzes Leben. Er entscheidet darüber, ob er ein Medizinmann, ein Krieger, ein Kräuterheiler oder ein Clown wird. So gibt der Initiationstraum den Sioux eine vollständige Orientierung über ihr Leben – wie sie es gestalten, was sie damit anfangen sollen. Und diese Orientierung ist nichts Erdachtes, willkürlich Geplantes – sie entstammt jener transzendenten Welt, aus der die Seele ursprünglich stammt und zu der sie nach dem Tode zurückkehren wird.
Die Naskapi träumen ihre Jagd, bevor sie tatsächlich auf die Pirsch gehen, um durch ihren Traum die dazu notwendigen Informationen zu erhalten. Für die Tolteken ist dies eine gebräuchliche Vorgehensweise. So beschreibt La Gorda in »Der zweite Ring der Kraft« eine Traumübung dieser Art, die sie unter Anleitung von Don Juan ausführen mußte. Sie sollte einen besonderen Gegenstand finden, der genau in ihren Nabel paßt. Diesen sollte sie im »Träumen« suchen und dann in der normalen Welt wiederfinden. La Gorda berichtet: »Ich fand im Traum einen Kiesel, der genau in meinen Nabel paßte, und der Nagual (Don Juan – Anm. d. Autors) ließ mich Tag für Tag in Wasserlöchern und Schluchten nach diesem Kiesel suchen, bis ich ihn fand. Ich fertigte mir dafür einen Gürtel, und den trage ich noch immer bei Tag und Nacht. Wenn ich ihn trage, fällt es mir leichter, in meinen Träumen die Bilder festzuhalten.«
Abgesehen von dem Zweck dieser Übung finden wir hier die typische Einstellung von der pragmatischen Nutzbarkeit der Trauminformation. Eine Vielzahl weiterer belegender Beispiele werden im zweiten Teil dieses Buches zum Thema »Träumen« angeführt. Was sich für die Menschen der Naturvölker als selbstverständlich erweist, bleibt für den Abendländer meist unverständlich, wenn nicht gar unglaubwürdig. Diese Problematik ergibt sich – wie schon erwähnt – aus der Überzeugung der Tradition der Aufklärung, daß der Traum lediglich ein inneres Produkt darstelle und jeder äußeren Entsprechung entbehre. Diese Auffassung erweist sich jedoch aus der Perspektive der Erkenntnistheorie als unhaltbar. So sind z.B. aus der Sicht Husserls Traum und Wahrnehmung einander gleichgestellte Auffassungsfunktionen. Vielleicht geht dies den »zivilisierten« Menschen auch eines Tages auf.
Hierzulande wird den Träumen so wenig Aufmerksamkeit gewidmet, daß es niemanden verwundern darf, wenn diese Bewußtseinsfunktion ungenutzt verkümmert ist. Dieser Mißstand ist m.E. maßgeblich verantwortlich für das Vorherrschen neurotischer Verhaltensweisen in unserer modernen Zeit. Schlaflosigkeit, Zwangsvorstellungen, Sinnentleerung und Langeweile, alle diese Probleme rühren – auch aus der Sicht der analytischen Psychologie – aus dem Ungleichgewicht zwischen dem bewußten Ich und dem Unbewußten her. Die Träume stellen die vermittelnde Brücke zwischen diesen Teilen unseres Selbst dar und bieten so eine Möglichkeit, das Problem individuell zu lösen. Man kann all den Menschen, die einen Sinn, eine Orientierung in ihrem Leben suchen, nur raten, sich mehr mit ihren Träumen zu befassen; um vielleicht sogar – wie die Tolteken – voll bewußt über die Traumbrücke selbst in die Transzendenz einzugehen.
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