Hier etwas Hintergrund-Info zu meiner Erfahrung und der Theorie bzgl. spirituelle Integration bei Traumafolgen des letzten Text.
Zitat:Darmi Charf – Auch alte Wunden können heilen Vgl. S. 20- 42
Eine Traumatisierung bedeutet im Grunde, dass der Körper nicht mehr aus einer Schreckreaktion herausfindet, die ein bestimmtes Ereignis ausgelöst hat, sondern darin verharrt.
Wie eine Traumatisierung entsteht
Wenn in der Öffentlichkeit über Trauma gesprochen wird, so ist in fast allen Fällen das Schocktrauma gemeint, und unter Trauma Therapien werden dementsprechend nahezu immer Schocktrauma Therapien verstanden. Ein Schocktrauma ist ein singuläres, also einmaliges Erlebnis im Leben eines Menschen. Es ist klar abgegrenzt und wird meist als überwältigende Erfahrung wahrgenommen, die lebensbedrohlich sein kann. Hier noch einmal die Stressreaktion in vertiefter Darstellung: Kampf oder Flucht: Solange unser Stammhirn noch eine Chance sieht, werden wir kämpfen oder fliehen. Immerhin hat sich unser gesamter Körper, wie oben beschrieben, dafür bereit gemacht.
Vorübergehende Erstarrung: Werden wir jedoch überwältigt, so erstarren wir. Dabei ist es wichtig, zwischen zwei verschiedenen Formen der Erstarrung zu unterscheiden. Zunächst einmal fallen wir in eine Form von Erstarrung, die noch immer hochgradig sympathikoton ist (das heißt, vom sympathischen Zweig des Nervensystems gesteuert, der für Energie und hohe Erregung zuständig ist). Das bedeutet, dass unter der Erstarrung enorm viel Energie gehalten wird. Wohl jeder von uns kennt eine ähnliche Form von hoch angespannter Starre in einer Situation, in der man einen Moment lang nicht weiterwusste, aber dennoch komplett angespannt war.
Totstellreflex: Hält die Überwältigung an, so verlässt plötzlich jede Spannung den Körper, und der Mensch kollabiert. Diese Form der Erstarrung ist eine Art Totstellreflex, der vom parasympathischen Nervensystem gesteuert wird, also von dem Teil des autonomen Nervensystems, das für Entspannung zuständig ist. Es ist die älteste zur Verfügung stehende Reaktion auf Lebensgefahr, die wir in unserem Stammhirn gespeichert haben. Je jünger ein Mensch zum Zeitpunkt des traumatisierenden Ereignisses war und je hilfloser er sich in dieser Situation gefühlt hat, desto wahrscheinlicher hat die zweite, die parasympathische Reaktion stattgefunden. Es ist wichtig, die Unterschiede zwischen den beiden Formen der Erstarrung hervorzuheben: Im ersten Fall haben wir noch Kraft, wir sind noch bereit, uns zu verteidigen, auch wenn wir vorübergehend nicht weiterwissen. Im zweiten Fall ist jede Art von Energie verschwunden, und der Muskeltonus erschlafft.
Schauen wir uns noch einmal im Einzelnen an, was bei einem überwältigenden Erlebnis abläuft: Zunächst einmal wird unglaublich viel Energie im Körper bereitgestellt. Es ist so, als würde ein Blitz in ein Haus einschlagen. Zunächst einmal sind die Stromleitungen, die auf 220 Volt ausgelegt sind, vollkommen überlastet. Die Notabschaltung greift und die Sicherungen fliegen heraus. Etwas Ähnliches geschieht in dem Moment in unserem Körper, in dem ein Ereignis für uns nicht mehr handhabbar ist und alles viel zu schnell geht oder wir komplett überwältigt werden. Dann tritt unsere Notsicherung in Kraft und unser Körper schaltet über das parasympathische System ab. Dieser Vorgang, der uns auch vor den schrecklichen Gefühlen schützt, die mit dem Ereignis verbunden sind, kann sofort eintreten oder auch erst, nachdem wir gekämpft haben und nicht gewinnen konnten. Zu den zahlreichen klassischen Symptomen von Schocktraumata gehören zum Beispiel sogenannte Flashbacks und Intrusionen, das heißt, dass Erinnerungen und Bilder auf einen Menschen einstürmen. Sehr viele Klienten haben allerdings gar keine derart spezifischen Symptome, bei ihnen sind die Anzeichen der Traumatisierung subtiler ausgeprägt, ohne deshalb weniger Leid zu verursachen.
Um festzustellen, ob es sich bei einem Erlebnis wirklich um ein Schocktrauma handelt, achte ich darauf, ob die betroffene Person von dem auslösenden Ereignis erzählen kann. Wenn das der Fall ist – auch wenn sie dabei traurig ist und weint –, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach zwar um ein schreckliches Erlebnis, aber nicht um eine traumatische Erfahrung. Bei traumatischen Ereignissen können Menschen nicht darüber reden, ohne zu sich selbst und zu ihren Emotionen auf Distanz zu gehen – zu dissoziieren. Ich möchte es so erklären: Wenn jemand von einem traumatischen Erlebnis erzählt, wird er oder sie von Gefühlen und Bildern überflutet und kann das genauso wenig aushalten wie bei dem Ereignis selbst.
Dann bleiben zwei Möglichkeiten: Einerseits kann die Person dissoziieren, sich also von ihren Gefühlen abspalten, um nicht mehr davon erdrückt zu werden. Das äußert sich zum Beispiel in einer sehr flachen Tonlage. Wenn ältere Menschen vom Krieg erzählen, wird ihre Stimme oft ausdruckslos. Ihnen fehlt dann völlig der Zugang zu den Gefühlen, die sie bei diesen Erlebnissen empfunden haben. Manchmal kommt es sogar vor, dass Menschen beim Erzählen an Stellen lächeln, an denen es einen als Zuhörer kalt überläuft. Oder sie erzählen von den Ereignissen in einer unpassenden Weise.
Die andere Möglichkeit besteht darin, dass die Gefühle beim Erzählen ganz und gar nicht abflachen. Sie sind so stark, dass der Mensch sie nicht halten kann und gewissermaßen unter ihnen zusammenbricht. Das geht über gewöhnliche Traurigkeit hinaus – es ist, als würde die betroffene Person weggeschwemmt.
Eine traumatische Reaktion entsteht, wenn der Körper keine Meldung bekommen hat, dass das Ereignis vorüber ist und eine Normalisierung der Stressreaktion stattfinden kann. Das Lebensgefühl des betroffenen Menschen entspricht dann einer Fahrt mit der Achterbahn. Sein Nervensystem befindet sich nicht mehr oder nur noch höchst selten im Gleichgewicht, sondern schwankt von einem Zustand der Übererregung zu einem Zustand der Untererregung. Unsere Physiologie bestimmt in hohem Maße unsere psychische Verfassung.
Wie erkennt man eine Traumatisierung?
In einigen Fällen normalisiert sich dieser Zustand nach spätestens einem halben Jahr wieder. Bei manchen Menschen jedoch besteht er für den Rest ihres Lebens weiter. Dies äußert sich in den verschiedenen eingangs erwähnten Symptomen, die auch in den Klassifikationsystemen aufgeführt sind, mit denen Ärzte und Psychotherapeuten arbeiten.1 An dieser Stelle möchte ich auf Auswirkungen traumatischer Erlebnisse eingehen, die wesentlich weiterverbreitet sind.
Symptome, die auf eine sympathikotone Übererregung hinweisen:
Ständig etwas tun und in Bewegung sein, nicht zur Ruhe
kommen können: »Ich tue, also bin ich.«
Nervosität
Konzentrationsschwäche
Wutausbrüche
Schlaflosigkeit
Angespanntheit
Schwierigkeiten, anderen zu vertrauen
Misstrauen
Vieles auf sich selbst beziehen
Arbeitssucht: »Ich arbeite, also bin ich.«
Suche nach dem »Adrenalin-Kick«
Probleme, den Fokus zu halten
Selbstmedikation mit allem, was beruhigt
Symptome, die auf eine parasympathische Übererregung hinweisen:
Depression
Ein Gefühl von Sinnlosigkeit
Sich »anders« fühlen
In Trance gehen (zum Beispiel vor dem Fernseher oder
Computer oder beim Lesen)
Kraft- und Energielosigkeit
Sich allein und abgeschnitten fühlen
Sich vom Leben wie durch eine Glaswand getrennt fühlen
Die betroffenen Menschen schwanken beständig von einem Zustand in den anderen. Der zeitliche Abstand ist dabei unterschiedlich, aber irgendwann finden sie sich auf der »anderen« Seite wieder. Durch den Achterbahneffekt gibt es nur selten Phasen, die von reiner Lebensfreude und Entspannung geprägt sind – und das macht das Leben ungeheuer schwer.
Entwicklungstrauma – alte Schmerzen, tief verborgen
Anders als beim Schocktrauma, das auf ein einmaliges Erlebnis zurückgeht, beruht das Entwicklungstrauma auf sich wiederholenden Ereignissen, die ein hohes Stressniveau ausgelöst haben.
Entwicklungstraumata sind meiner Meinung nach heute ein epidemisch auftretendes Phänomen. Sie sind inzwischen zu einem Merkmal unserer Gesellschaft geworden. Und leider ist die Art und Weise, wie wir mit Kindern, Babys und Geburten umgehen, nicht dazu angetan, dies zu ändern. Entwicklungstraumata können zum Beispiel entstehen, weil das Kind nach der Geburt aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Mutter durfte oder im Krankenhaus bleiben musste. Sie können entstehen, weil das Kind von klein auf zu wenig Körperkontakt bekommen hat und die Mutter oder die Bezugsperson nicht in der Lage war, empathisch zu reagieren. Immer noch werden Babys schreien gelassen oder im Nebenzimmer zum Schlafen »abgelegt«. All dies ist für die Kinder höchst bedrohlich. Wenn sie allein gelassen werden, empfinden sie förmlich Todesangst.
Solche sich wiederholenden Stressoren haben eine völlig andere Wirkung auf Menschen als ein Schockerlebnis, denn sie werden zu einem Teil ihrer Persönlichkeit. Ich versuche dies immer so zu
verdeutlichen: Ein Schocktrauma ist wie ein falschfarbiger Faden in einem sonst gut gewebten Teppich. Zieht man ihn heraus, ist der Teppich immer noch in Ordnung.
Bei einem Entwicklungstrauma müsste man so viele Fäden ziehen, dass sich der Teppich in Form und Farbe verändern würde. Durch lang anhaltenden Stress prägen sich das gesamte Weltbild und Selbstbild eines Menschen vollkommen anders und tiefgreifender als durch einen Schock.
Meine Erfahrungen in der Praxis haben mir allerdings gezeigt, dass die beiden Traumaformen nur sehr selten einzeln vorkommen. Unter einem Schocktrauma verbergen sich meist auch Entwicklungstraumata.
Wir sind uns heute bewusst, dass es außer unserem Gehirn im Kopf noch ein »Bauch-Hirn« und ein »Herz-Hirn« gibt. Beide senden Informationen an unser Kopf-Gehirn, die wir unbedingt benötigen,
damit unser Leben gelingt. Man könnte diese Informationen als Intuition bezeichnen, da sie unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegen und wir sie nur wahrnehmen können, wenn wir unseren Körper wirklich gefühlt wahrnehmen.
Bei allzu großen – auch seelischen – Schmerzen verlassen wir unseren Körper. Diese Abspaltung oder Dissoziation kann zu einem bleibenden Zustand werden, der den meisten Menschen kaum bewusst ist, weil sie noch immer in der Lage sind, ihren Alltag zu meistern und zu »funktionieren«. Viele bemerken erst dann, dass etwas nicht stimmt, wenn sie Schmerzen haben, die sich nicht erklären lassen, ein Burn-out entwickeln oder ihre Urlaubszeit überwiegend mit Krankheiten verbringen.
Fehlt der Zugang zum eigenen Körper, spüren wir die eigenen Bedürfnisse und Gefühle wenig, und so werden diese oft vernachlässigt. Die innere Wahrnehmung des Körpers ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was wir für ein zufriedenes und erfülltes Leben brauchen. Wenn wir unseren Körper nicht mehr
spüren, entgehen uns viele Hinweise darauf, wann wir Grenzen setzen oder Pausen machen sollten, wann wir essen sollten oder nicht und vieles mehr.
Leider besteht der Preis für die Abspaltung des Körpers auch in einer Verflachung aller Gefühle. Das ist natürlich einerseits sinnvoll, da alte Schmerzen auf diese Weise eingekapselt werden und nicht mehr wehtun. Andererseits können dann auch positive Gefühle nicht mehr in ihrer ganzen Fülle erlebt werden. Die betroffenen Menschen sind gewissermaßen im Kopf und in einer Welt des Intellekts gefangen. Sie empfinden das nicht zwingend als Gefangenschaft – als Freund oder Freundin erkennt man jedoch, dass dem anderen etwas fehlt.
Ein Mensch, der seine Aufmerksamkeit beständig darauf richtet, Gefahren auszumachen, weil er die Welt aus Erfahrung für einen gefährlichen Ort hält, wird sich wesentlich anders durch sein Leben bewegen und auf andere Menschen zugehen als jemand, der davon überzeugt ist, dass ihm die Leute freundlich gesonnen sind und die Welt es gut mit ihm meint.
Dies ist sicherlich eine der gravierendsten Folgen aus traumatischen Erlebnissen. Am stärksten ausgeprägt ist sie bei Menschen mit sehr frühen Traumatisierungen. Bei ihnen ist diese innere Wahrnehmung von Gefahr sozusagen in die »PersönlichkeitsDNA« eingraviert.
Zwischen Über- und Untererregung – die traumatische Achterbahn
Es gibt allgemeine Symptome, die sowohl bei einem Schocktrauma als auch bei einem Entwicklungstrauma auftreten können. Sie haben mit Über- und Untererregung zu tun. Wie beschrieben können sie sich darin äußern, dass sich das ganze Nervensystem ständig auf einem sehr hohen Aktionsniveau befindet. Auch starke Wechsel zwischen extremer Erregung und einem Mangel an Erregung, wie zum Beispiel bei einer Depression, sind möglich. Ein Leben mit einer Traumatisierung ist sehr anstrengend, denn diese zeigt sich praktisch in allen Lebensbereichen. Sie beeinflusst den Umgang des Menschen mit sich selbst, mit seinen Lebenszielen und allen Beziehungen. Ein Trauma durchwirkt unser Leben auf eine so grundlegende Art und Weise, dass es kaum noch wahrgenommen wird, weil es so normal erscheint. Es gibt allerdings einige Symptome, die in unserer Gesellschaft immer häufiger in den Vordergrund treten:
Schlafstörungen und Unruhe.
Ein Körper, der ständig Gefahren erwartet, hat selbstverständlich Schwierigkeiten, zur Ruhe zukommen, sich zu entspannen oder gar einzuschlafen. Ich frage neue Klienten häufig, wie es sich für sie anfühlen würde, wenn sie sich einfach auf die Couch setzten und nichts täten. Die meisten können es sich nicht einmal mehr vorstellen, einfach nichts zu tun. In dem Moment, in dem sie äußerlich zur Ruhe kommen, spüren sie ihre innere Unruhe, die oft auch unangenehme Gefühle hochspült. Deshalb ist es viel leichter, tätig und in Bewegung zu bleiben. Manche Menschen werden auf diese Weise sehr erfolgreich – und unsere Gesellschaft belohnt Workaholics mit Karriere, Geld und Status.
Angst und Panik.
Angstzustände und Panikattacken zählen für viele Trauma-Therapeuten zu den Symptomen von Traumata. Panikattacken können wir erklären, indem wir uns daran erinnern, dass der viel zu hohe innerliche Energielevel einer Person diese ununterbrochen in einem Zustand der Übererregung festhält. Diese Übererregung wird meist durch hohe Muskelspannung und viel Ablenkung und »Funktionieren« »gemanagt«.
Wenn durch die innere Brille ständig Gefahr erwartet und die sehr hohe Energie als Angst interpretiert wird, sucht das Gehirn nach einem Grund für diese Angst. Evolutionär gesehen, sind wir leider darauf geeicht, die Auslöser für Angst immer in unserer Umwelt zu suchen. Vereinfacht gesagt, sind Panikattacken Momente, in denen der innere Zustand der Übererregung nicht mehr zu halten ist und wie ein Dampfkessel hochkocht. Das Übersprudeln dieses bereits brodelnden Zustands kann dann durch praktisch alles ausgelöst werden. Nach einer Panikattacke kehrt kurz Entspannung ein, bis das alte Niveau der Übererregung wieder erreicht ist und es von vorne losgeht.
Die meisten Betroffenen entwickeln eine genaue Selbstbeobachtung. Die eigenen Gefühle werden immer sensibler analysiert, und so entwickelt sich das Ganze zum Selbstläufer: Der Mensch nimmt Spannung wahr und interpretiert diese als Angst. Er will das Gefühl kontrollieren, merkt, dass er dazu nicht in der Lage ist, die Angst wächst, und so geht es weiter, wie bei einer Lawine, die langsam in Gang kommt.
Wut.
Manche Menschen spüren keine Angst, haben dafür aber Wutanfälle. Sie sind für ihre Umgebung manchmal schwer auszuhalten und sehr unberechenbar im Umgang. Vom Ablauf her ist es wie bei den Panikattacken, aber die innere Übererregung wird anders interpretiert: Die Person reagiert auf alle Reize von außen mit Wut, weil sie sich angegriffen fühlt.
Eine Verbesserung dieser Symptome kann erst dann eintreten, wenn ein Mensch anfängt, seine innere Unruhe zu fühlen und wahrzunehmen, ohne sie zu interpretieren. Er oder sie lernt, die Unruhe rein physiologisch als Körperempfindung wahrzunehmen und nicht mit Gefühlen zu verbinden.
Sprunghaftigkeit, Schreckhaftigkeit und Hyperaktivität.
Dies können weitere Symptome nach traumatischen Ereignissen sein. Für manche Menschen ist es extrem schwierig, sich zu konzentrieren. Ihre innere Unruhe ist so groß, dass sie nicht sehr lange bei einer Sache bleiben können. Einige meiner Klienten kostet es beispielsweise große Mühe, ein Buch zu lesen.
Untererregung, Kollaps und Depression.
Der Zustand der Übererregung ist enorm anstrengend. Nach einer Weile schaltet der Körper von
sich aus das Sicherungssystem ein. Die Sicherungen brennen durch, und die Person landet am anderen Ende der Achterbahn in der Untererregung oder im Kollaps und fühlt sich regelrecht »abgeschaltet«.
Sehr häufig fallen Menschen nach der Arbeit in diesen Kollaps. Erstaunlicherweise verwechseln viele diesen Zustand inzwischen sogar mit Entspannung. Dabei ist echte Entspannung ein angenehmer körperlicher Zustand, in dem der Muskeltonus nachlässt, man innerlich »runterfährt« und sich dennoch präsent fühlt.
Bei vielen meiner Klienten, bei denen Ärzte eine Depression oder sogar eine bipolare Störung – also eine manisch-depressive Erkrankung – diagnostiziert hatten, stellte sich heraus, dass dahinter traumatische Ereignisse lagen, die nicht integriert waren. Häufig empfinden Menschen in einem Zustand der Untererregung oder des Kollapses eine tiefe Sinnlosigkeit, das Gefühl der Abgeschnittenheit von anderen Menschen, emotionale Taubheit oder einen unergründlichen Schmerz, der nichts mit ihrem aktuellen Leben zu tun hat. Die tiefe Erschöpfung, die damit einhergeht, ist das Ergebnis der ständigen Übererregung, die irgendwann die Energiereserven eines jeden Menschen aufgebraucht hat.
Der Wechsel von Über- und Untererregung kann in langen Abständen erfolgen oder auch in sehr kurzen. Manche Menschen sind in ihrem Beruf sehr leistungsfähig, während sie abends in ihrem Privatleben zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Andere wirken während des Tages oft überhaupt nicht präsent und sind auch nicht emotional anwesend, können aber nachts durch innere Unruhe nicht schlafen.
Bei all diesen Zuständen neigen wir zur Selbstmedikation. Wir greifen auf künstliche Beruhigungsmittel zurück, um bestimmte Dinge nicht wahrnehmen zu müssen: Alkohol, Essen, Computer, Fernsehen und Rauchen sind wohl die am weitesten verbreiteten Methoden, um die innere Unruhe nicht mehr zu spüren oder sie zumindest besser aushalten zu können. Je länger das Nervensystem in einem solchen dysregulierten Zustand bleibt, desto erschöpfter fühlt sich der betroffene Mensch. Kein System kann auf Dauer im Zustand der Erregung bleiben, und auch der ständige Wechsel zwischen extremer Über- und
Untererregung bleibt nicht folgenlos. Wer würde sich in einen Porsche setzen und gleichzeitig auf Gas und Bremse treten? Das Ergebnis wäre lediglich ein extrem hoher Benzinverbrauch und auch sonstiger Verschleiß, ohne dass man irgendwo hinkäme.
Bei Stress schöpft die Leber all ihre Reserven aus, um genügend Energie bereitzustellen. Geschieht dies allerdings ständig, ist sie irgendwann völlig erschöpft. Das Gleiche gilt für die Nebennieren, die viel zu häufig Adrenalin produzieren müssen. So werden auch die Nieren überanstrengt, und dies führt zu einem chronisch abgekämpften Zustand, in dem die nötige Energie fatalerweise nur durch noch mehr Adrenalin bereitgestellt wird. Medizinisch gibt es für diesen Zustand inzwischen den Begriff chronischer Erschöpfungszustand oder Burn-out.
All die beschriebenen körperlichen und seelischen Aspekte können Hinweise auf eine Traumatisierung sein. Sie müssen es aber nicht – die therapeutische Psychologie ist eben keine exakte Wissenschaft. Aber wenn jemand Leidensdruck empfindet, sich nicht mehr fallen lassen kann, Probleme mit Vertrauen hat und sich ständig in Anspannung befindet, dann ist das wohl ein guter Zeitpunkt, das Ganze näher zu untersuchen. Denn wenn wir zu lange im Funktionsmodus verharren, fühlen wir uns irgendwann
erschöpft, ausgebrannt und freudlos.
Selbstregulation – das Thermometer des Lebens
Leiden Menschen mehr, als sie aushalten können, suchen sie nach Lösungen. Sie sehnen sich danach, von ihrem Leiden beziehungsweise den Symptomen buchstäblich erlöst zu werden. Unser Denken über Symptome und die Kategorisierung in Krankheiten führt leider häufig in die Irre. Wir suchen dann nach einer Lösung, die das Symptom verschwinden lässt. Aber unsere Psyche funktioniert nun einmal nicht nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Wir müssen damit beginnen, uns als einen Prozess, als ein vielschichtiges System zu verstehen. Die moderne Medizin geht nicht selten so vor, als hätte der Patient einen Stein im Schuh, der ihm Schmerzen bereitet. Also bekommt er Schmerztabletten. Aber wenn er die Schmerzen nun nicht mehr fühlt, ist die Ursache dann beseitigt? Selbstverständlich nicht – und doch ist das Denken, auf dem dieses Vorgehen beruht, sehr verführerisch.
In der Psychotherapie geschieht Ähnliches. Die Therapeuten widmen sich den Symptomen und den Problemen, die ein Klient mitbringt. Je nach Therapieform wird versucht, das Symptom – meistens die Symptome – dadurch zu mildern, dass man nach der Ursache forscht und diese aufdeckt. Es sollen also durch Erkenntnis Symptome zum Verschwinden gebracht werden. Ein anderer Weg besteht darin, die Verhaltensmuster der Klienten so zu verändern, dass die Symptome nicht mehr auftreten, oder Medikamente zu verschreiben, die die Symptomatik verschwinden lassen oder mildern.
Diese Ansätze gehen meiner Meinung nach auf unseren Wunsch nach Linearität und Logik zurück. Nicht selten allerdings auch auf die Ohnmacht, mit der wir letztendlich der Komplexität eines menschlichen Wesens gegenüberstehen.
Bettina Schroeter, eine meiner ersten Ausbilderinnen, hat einmal gesagt: »Neurosen können wir ein ganzes Leben lang bearbeiten. Sie sind wie eine Hydra – haben wir eine bearbeitet, zeigt sich bereits die nächste.« Aus irgendeinem Grund hat mich dieser Satz besonders berührt, und ich habe ihn mitgenommen, obwohl ich ihn damals überhaupt noch nicht verstand. Doch ich habe gespürt: Darin liegt eine Wahrheit.
Der wichtigste Begriff, über den ich auf meiner Forschungsreise nach dem Kern unseres Leidens während einer Fortbildung gestolpert bin, ist Selbstregulation. Das erste Mal davon gehört habe ich durch meinem Kollegen Johannes B. Schmidt, und das Wort packte mich genauso wie Jahre zuvor die Sätze von Bettina. Selbstregulation – das klang wahrhaftig. Plötzlich fielen all die Puzzlestücke meiner Erfahrungen mit mir selbst und meinen Klienten an eine andere, richtigere Stelle. Die Beschäftigung mit den bewussten und unbewussten psychischen Vorgängen der Selbstregulation beantwortete die wichtige Frage, warum viele Menschen praktisch alles über sich wissen und verstehen und dennoch nicht glücklich leben können. Weshalb sie sogar häufig das Gefühl haben, dass sich nach Jahren der therapeutischen Arbeit fast nichts bewegt hat.
Was also ist Selbstregulation? Verkürzt gesagt, umfasst sie folgende Fähigkeiten:
die Fähigkeit, sich bei emotionalem Aufruhr selbst zu beruhigen,
die Fähigkeit, sich zu erholen und zu entspannen,
die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auszurichten und zu halten,
die Fähigkeit, Impulse zu fühlen, zu kontrollieren und gegebenenfalls zurückzustellen,
die Fähigkeit, mit Frustrationen umzugehen,
die Fähigkeit, Absichten zu verwirklichen und Ziele zu verfolgen,
die Fähigkeit, Freude zu empfinden und die Welt erkunden zu wollen,
sowie die Fähigkeit, eine Pause zwischen Reiz und Reaktion zu machen.
Menschen sind den ganzen Tag über darauf angewiesen, sich innerlich so regulieren zu können, dass sie in einem guten Zustand bleiben. Das Leben hält ständige Herausforderungen für uns bereit und verlangt, dass wir uns dauernd auf Situationen einstellen, mit anderen Menschen umgehen, arbeitsfähig sind und uns sozial angemessen verhalten. Dabei unterscheide ich sehr stark zwischen gefühlter Lebendigkeit und einem »Funktionsmodus«. Viele Menschen bewältigen ihren Alltag in einem Funktionsmodus, in dem sie zwar noch allen Anforderungen genügen, sich aber kaum spüren und erst recht nicht ihr Leben genießen.
Damit wir den Anforderungen unseres Lebens gerecht werden, greifen wir bewusst oder unbewusst auf Ressourcen – funktionale und dysfunktionale – zurück. Mit »Ressourcen« meine ich Dinge, mit deren Hilfe wir uns im Alltag ablenken, beruhigen, aufputschen oder auf irgendeine andere Weise unsere Stimmung verändern.
Funktionale Ressourcen.
Das sind Aktivitäten, die uns wirklich guttun. Dazu gehören Spaziergänge, Meditationen, gute Gespräche, Kontakt, zur Ruhe kommen oder uns einem Hobby widmen.
Dysfunktionale Ressourcen.
Genauso häufig wie die oben genannten Ressourcen nutzen die meisten Menschen auch solche, die sich zwar gut anfühlen, jedoch nicht unbedingt gut sind. Dazu gehören Rauchen, Alkohol trinken, Essen, vor dem Fernseher oder Computer sitzen, Shoppen gehen etc.
Wie schnell ein Mensch auf Ressourcen zurückgreift und wie viel Glück und Stress er oder sie zulassen kann, hängt von der Fähigkeit zur Selbstregulation ab. Sie ist die ausschlaggebende Fähigkeit, die unser Leben schön oder anstrengend macht. Sie ist der tiefe Ozean, auf dem sich unser Leben abspielt, die Unterströmung unseres Lebens. Die Symptome oder Diagnosen sind nur die Dinge, die sich an der Oberfläche zeigen. Ganz gleich, wie viele von ihnen wir bearbeiten – solange wir die Strömung nicht verändern, wird sich unser Leben nicht grundlegend verbessern.
Nervensachen
Schauen wir uns also genauer an, was Selbstregulation ist und wie sie entsteht. Dafür müssen wir eintauchen in die Welt des Körpers und des Nervensystems.
Im täglichen Leben werden die meisten unserer Aktionen von den älteren Teilen des Gehirns und des autonomen Nervensystems, aber auch des endokrinen Systems gesteuert. Dabei hat das autonome Nervensystem die Aufgabe, unsere Erregung zu steuern und zu modulieren, also sowohl unsere Wach- als auch unsere Entspannungszustände. Es heißt »autonom«, weil es sich dadurch auszeichnet, dass es nicht direkt willentlich beeinflusst werden kann. Die beiden Zweige des autonomen Nervensystems (ANS) heißen Sympathikus und Parasympathikus. Der Sympathikus ist für Erregung und der Parasympathikus für Entspannung und Ruhe zuständig. Sympathikus und Parasympathikus, der hauptsächlich vom Vagusnerv repräsentiert wird, steuern praktisch alle Organe an und regulieren diese. Würde man alle Nerven der beiden Teile des ANS abbilden, so würden sie ziemlich genau unseren Körperumriss zeigen. Grob gesagt sind Sympathikus und Parasymphatikus Gegenspieler, die sich gegenseitig in Schach halten und die Aktivitäts- und Entspannungszyklen im Körper lenken. Ist der eine aktiver, so ist der andere inaktiver (dies ist eine vereinfachte Darstellung). Für unser Wohlbefinden sind beide gleich wichtig.
Ein angemessen innervierter (aktivierter) Sympathikus sorgt für:
angenehme Erregung,
Neugier,
Freude,
Wachheit,
Aktionspotenzial.
Sein Gegenspieler, der Parasympathikus, sorgt für:
angenehme Entspannung,
erholsamen Schlaf,
meditative Ruhe,
ein Gefühl von Verbundenheit.
Ein gesundes autonomes Nervensystem zeichnet sich vor allem durch Flexibilität aus. Es ist fähig, in beide Richtungen zu schwingen und sich den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen. Die Schwingungsbreite des ANS, das heißt, dessen Möglichkeit, unterschiedlich weit zu schwingen, ist bei jedem Menschen verschieden. Wie stark sich die Schwingungsbreite herausbildet, hängt in sehr hohem Maße davon ab, wie die Geburt und die frühe Kindheit verlaufen sind.
Das Toleranzfenster – der Rahmen unseres Lebens
Man kann sich das Ganze wie einen Fensterrahmen vorstellen, in dem die Erregung mal schwach und mal stürmisch hin und her schwingt, sich dabei jedoch innerhalb des Rahmens bewegt. Das nennt man das Window of Tolerance. Menschen mit einem großen Toleranzfenster können mehr Gefühle, das heißt, Erregung zulassen, ohne dass es sie stresst. Sie können stärkere Glücksgefühle empfinden und auch mehr Stress aushalten als Menschen mit einem schmalen Toleranzfenster. Letztere stoßen sehr schnell im wahrsten Sinne des Wortes an ihre Grenzen.
Wir alle fühlen uns am wohlsten, wenn wir uns im Rahmen unseres Toleranzfensters bewegen, und streben diesen Zustand an. Das bedeutet gleichzeitig, dass wir uns ununterbrochen so regulieren müssen, dass wir innerhalb des Fensters bleiben. Die ideale Voraussetzung dafür wäre, wenn wir uns die ganze Zeit spüren und Kontakt mit unserem Körper, unseren Gefühlen und Bedürfnissen halten würden. Dann wären wir in der Lage, eine innere Dysregulation sofort auszugleichen und würden nicht »ausdem Rahmen fallen«.Ein »gesundes«, anpassungsfähiges Nervensystem stellt sich etwa so dar:
Die Schwingungen sind verschieden und unterscheiden sich in ihrer Intensität. Sie bewegen sich jedoch immer innerhalb des Rahmens. Während eines stressigen Tages hält sich die Schwingung mehr im oberen Bereich. An einem anderen Tag, den man auf der Couch verbringt, orientiert sich die Schwingung mehr nach unten, ohne größere Ausschläge nach oben. Am wichtigsten ist jedoch unsere individuelle Begrenzung nach oben und unten. Diese gibt vor, wie viel Erregung und Entspannung für uns möglich ist. Festgelegt wird das schon durch die Umstände unserer Geburt und die ersten Lebenserfahrungen. Die Schwingungsfähigkeit gibt vor, wie viel Gefühl eine Person in sich halten kann – sowohl angenehme als auch unangenehme Emotionen. Menschen mit einem sehr engen Toleranzfenster haben nur wenige Möglichkeiten, glücklich (hohe Erregung) zu sein, und
werden wahrscheinlich Situationen, die eine hohe Erregung mit sich bringen, lieber meiden. Gleichzeitig ist es diesen Menschen aber oft auch nicht möglich, sich tief zu entspannen, da auch dies ihr System überfordert.
Ein Entwicklungstrauma ist der hindernde Faktor für die Entstehung eines schwingungsfähigen, flexiblen und anpassungsfähigen Nervensystems. Geschieht etwas, das die Person in ihrer Bewältigungsfähigkeit, den sogenannten Coping-Fähigkeiten überfordert, so verändert sich die
Amplitude und das sympathische Nervensystem schlägt über die Grenzen des Toleranzfensters hinaus nach oben aus. Darauf folgt eine parasympathische Überreaktion, und der Ausschlag geht nach unten über die Grenzen hinweg in die Dissoziation oder Erstarrung. Dauert dieser Zustand an, führt dies zu einer Dysregulation im Nervensystem und dazu, dass die Ausschläge häufig außerhalb des Toleranzfensters liegen. Dadurch entstehen Symptome sowohl auf der körperlichen als auch auf der psychischen Ebene, die häufig für die Betroffenen vollkommen unverständlich sind. Ein derartig aus den Fugen geratenes Nervensystem kann man sich ungefähr so vorstellen:
Menschen, die durch ein Schocktrauma, frühe Verletzungen, Bindungsverletzungen und ein Entwicklungstrauma bereits ein dysreguliertes Nervensystem haben und bei denen das
Toleranzfenster sehr eng ist, sind dadurch leider sehr anfällig für weitere Schocktraumata und Stress. Symptome und Beschwerden sind Ausdruck einer grundlegenden Dysregulation im System Mensch.
Traumafolgen, Angststörungen, Depressionen, Schmerzen und die meisten anderen »Störungs- und Symptombilder« sind der Ausdruck einer Selbstregulationsstörung. Statt in Begriffen von Symptomen und Diagnosen zu denken, sollten wir eher von Regulation und Dysregulation sprechen. Dysregulation ist wie ein Kontinuum eines inneren Zustandes, der dem Chaos gleichkommt. Das Leben fühlt sich an wie ein ständiger Kampf gegen den Absturz. Der Alltag ist davon geprägt, gegen Ängste, Schmerzen oder Depression anzukämpfen und einigermaßen zu »funktionieren«. Dysregulation kann bis hin zu Zuständen führen, in denen Menschen sich freiwillig in die geschlossene Psychiatrie einweisen lassen, weil sie sich selbst nicht mehr aushalten.
Das Toleranzfenster kann in zwei Richtungen gesprengt werden: nach oben und nach unten hinaus. Manche Menschen befinden sich in ihrem Alltag mehr in der Übererregung, während andere sich eher im unteren Bereich befinden. Bei allen gibt es jedoch Wechsel, die als sehr anstrengend empfunden werden.
Zu hoch hinaus
Biologisch gesehen, wird die Bewegung nach oben vom Sympathikus gesteuert und sorgt für Mobilisation, die dann in Kampf oder Flucht mündet. Als Reaktion auf die Gefahr werden innerhalb
des Körpers die Stress-Systeme aktiviert, die hormonelle Veränderungen in Gang setzen. Die Dysregulation wird chronisch, wenn diese Reaktionssysteme beständig aktiviert bleiben, ohne dass
Gefahr besteht. Mit der Zeit kann der Körper diese ständige Alarmbereitschaft kaum noch bewältigen, und es entstehen Symptome und Verhaltensweisen, die charakteristisch dafür sind, dass das sympathikotone System des Menschen praktisch daueraktiv ist.
Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Die meisten Menschen, die an ihrem Leben leiden, zeigen trotz traumatischer Erfahrungen keine oder nur
wenige Anzeichen einer voll ausgebildeten PTBS und fallen deshalb häufig durch die diagnostischen Raster. Gerade frühe Verletzungen, Entwicklungstraumata und Bindungsverletzungen haben eine starke Dysregulation zur Folge, werden aber noch viel zu selten erfasst.
Dies sind Merkmale, nach denen ich schaue, wenn ich Menschen begegne:
Wie viel Zeit verbringt er oder sie mit Arbeit?
Wie gut kann sich jemand konzentrieren, zum Beispiel ein Buch
in Ruhe lesen oder sich ganz einer Tätigkeit hingeben?
Wie ausgeglichen ist jemand – gibt es starke
Stimmungsschwankungen oder gar Wutanfälle?
Wie viel Angst hat jemand?
Kann jemand in die Zukunft planen und Dinge, die er/sie heute
tut, in ihrer Auswirkung auf die Zukunft einschätzen?
Wie unruhig ist jemand und wie viel Stress sucht er oder sie?
Kann jemand einfach mal nichts tun oder muss er/sie immer in
Bewegung sein?
Wie sprunghaft ist jemand in seinen Gefühlen, Gedanken und
im Handeln?
Wie gut spürt sich jemand in seinem/ihrem Körper?
Kann er oder sie anderen Menschen vertrauen?
Wie sieht es mit Hingabe, Loslassen und Entspannung aus?
Kann jemand echte Intimität zulassen oder weicht er/sie dann
aus?
Zu tief nach unten
Fallen Menschen nach unten aus dem Toleranzfenster, so ist das auf eine Übererregung des parasympathischen Systems zurückzuführen. Dies ist ebenfalls eine Dysregulation. Einen in
normalem Maße aktiven Parasympathikus erkennt man zunächst an folgenden körperlichen Anzeichen:
langsamere und tiefere Atmung,
langsamerer Herzschlag,
niedriger Blutdruck,
normale Hautfarbe, die Haut fühlt sich bei Berührung trocken
an,
niedriger Muskeltonus,
erhöhte Verdauungstätigkeit.
Diese Zustände empfinden wir normalerweise als positiv und angenehm, wir fühlen uns entspannt. Ist der Parasympathikus jedoch beständig überaktiv, verwandelt sich Entspannung in Kollabieren und Ruhe in Depression. Wir finden dann die folgenden Verhaltensweisen und psychischen Zustände, die sich ebenfalls stark auf das tägliche Leben auswirken.
Ich stelle mir diesbezüglich die folgenden Fragen:
Fühlt sich der Mensch zugehörig?
Wie viel Energie hat er oder sie?
Hat er/sie das Gefühl, von anderen Menschen wie durch eine
Glasscheibe getrennt zu sein?
Neigt jemand zu Depression?
Ist jemand chronisch müde?
Fühlt sich jemand oft einsam, selbst wenn andere da sind?
Fühlt sich jemand öfter wie gelähmt?
Erstarrt jemand bei Stress, Konflikten, zu viel Nähe oder hohen
Anforderungen?
Kann jemand kaum Nein sagen und hat kein Gefühl für den
eigenen Raum?
Die parasympathische Überreaktion ist die älteste Reaktion auf Gefahr und wird, soweit möglich, vom Organismus vermieden. Ist diese Reaktion jedoch eingetreten, so ist die Wahrscheinlichkeit,
dass später Symptome auftreten, sehr hoch. Diese Reaktion wird so lange wie möglich vermieden, weil sie den Organismus den höchsten Preis kostet. Bei kleineren Lebewesen stirbt sogar ein bestimmter Prozentsatz der Tiere während des Totstellreflexes. Der Parasympathikus hat in diesem Fall einen so starken Ausschlag und der Organismus wird so weit heruntergefahren, dass die Organe nicht mehr versorgt und aktiviert werden und das Tier stirbt. Bei Menschen finden wir diese Reaktion beispielsweise beim multiplen Organversagen nach einem Schock, aber auch, wenn jemand aus einem sehr stressigen Berufsleben in Rente geht. Hier kommt es nicht selten zum plötzlichen Herztod als Reaktion auf die plötzliche Ruhe. In abgeschwächter Form kennen wir das wohl alle: wenn wir in den Urlaub fahren und dann krank werden oder an den Wochenenden Migräne bekommen. So etwas deutet auf ein Ungleichgewicht im autonomen Nervensystem hin,
das schon länger besteht.
Übergänge gestalten
In unserer Zeit haben viele Menschen keinen guten Bezug mehr zu ihrem Körper und seinen Reaktionen, oder sie haben es nicht gelernt, Übergänge zu gestalten. Sie leben ihr Leben am oberen
Rand ihres Toleranzfensters und sind nach Feierabend zu keinerlei Aktivitäten mehr in der Lage. Es ist wichtig, im Alltag Übergänge zu identifizieren und sie zu gestalten. Das können so banale Veränderungen sein wie von der Arbeit zur Freizeit oder von einem Zusammensein zu zweit zum Alleinsein. Wer schon einmal an einer intensiven Gruppenerfahrung teilgenommen hat, weiß, wie schwer es sein kann, wieder im Alltag anzukommen und sich neu zu orientieren. Viele Menschen »stürzen« dann »ab«, sie fallen gefühlt in ein Loch und verspüren unangenehme »Nachwehen« eines angenehmen Wochenendes. Das gilt vor allem für Menschen, bei denen die Selbstregulationsfähigkeit nicht gut ausgebildet ist. Man kann sogar sagen, hier hat das Nervensystem das Schwingen grundsätzlich verlernt. Statt zu schwingen und sich flexibel an die Begebenheiten des Lebens anzupassen, befinden sich die betroffenen Menschen entweder auf der übererregten Seite oder sie sind in die Untererregung abgeglitten. Das heißt, Menschen mit frühen Verletzungen und Traumatisierungen befinden sich selten im Rahmen des Toleranzfensters. Manche Menschen empfinden dies sogar als »langweilig«. Viele haben sich so sehr an die hohe Aktivierung ihres Nervensystems gewöhnt, dass sie Aktivismus und Dramatik mit Lebendigkeit verwechseln.
Stille und Ruhe werden dann fast als Bedrohung empfunden. Das Gehirn ist süchtig nach den Stresshormonen und Endorphinen geworden. Jede starke sympathische Erregung, die zur Adrenalinausschüttung führt, entlässt auch Endorphine in den Körper. Endorphine sind die körpereigenen, biologischen Schmerzmittel, und sie sind genauso mächtig und machen genauso
süchtig wie die synthetischen. Studien belegen, dass Menschen süchtig nach hoher Emotionalität und Dramen werden können. Es braucht Zeit und Geduld, sich von dieser scheinbaren Lebendigkeit
zu entwöhnen. Es gibt die Vermutung, dass das Gehirn von Menschen, die in traumatischen oder stressreichen Umgebungen aufgewachsen sind, süchtig ist und immer wieder nach seiner Dosis Endorphine verlangt. Die beständige Ausschüttung dieser Hormone hat zu einem Suchteffekt geführt, die den Betroffenen natürlich nicht bewusst ist, sich aber dennoch auf ihre Lebensgestaltung auswirkt. Diese »Dramasucht« kann gepaart sein mit einer starken Identifikation mit jenem Teil der Persönlichkeit, der von sich denkt, dass er starke Gefühle hat oder eben sehr impulsiv und leidenschaftlich ist. Je mehr ein Mensch dies als Teil seines Selbstbildes und seiner Persönlichkeit sieht, desto schwieriger ist an dieser Stelle die Veränderung, da wir immer identitätskonform, also im Einklang mit unserem Selbstbild, handeln wollen.